Am Anfang fühlte es sich wie ein langes Wochenende an, beschreibt Melanie Bilgen. Dabei waren die beiden aufeinander folgenden Feiertage, die das Jahr des Reformationsjubiläums im Herbst 2017 mit sich brachte, für sie weit mehr als das. Sie waren der Beginn einer siebenmonatigen Auszeit von ihrem Beruf.

Morgens entscheiden, wie man den Tag verbringt

Eine Bekannte hatte sich schon einige Zeit zuvor eine solche als Sabbatical bekannte Auszeit genommen, was die Idee auch bei Melanie Bilgen aufkeimen ließ. Ihre Überlegung: "Irgendwann wäre es schön, einfach morgens entscheiden zu können, wie man den Tag verbringt." Und das, ohne zu viele Pläne in einer begrenzten Anzahl von Urlaubstagen oder -wochen unterbringen zu müssen. Nach rund zwei Jahren, in denen dieser Wunsch wieder in Vergessenheit geraten war, wurde er schließlich konkret.

Bei ZF, wo die 33-jährige Ingenieurin im Entwicklungsbereich PKW-Getriebe arbeitet, sind berufliche Auszeiten durch eine Betriebsvereinbarung klar geregelt. Ganz leicht sei es ihr zunächst trotzdem nicht gefallen, ihre Chefs darauf anzusprechen. Die Reaktion sei aber so ausgefallen, wie insgeheim eigentlich erwartet: positiv. "Meine direkten Vorgesetzten standen kurz vor der Rente", sagt Bilgen. "Sie fanden die Idee toll, sich schon vorher mal Zeit für sich selbst zu nehmen."

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Wie "kurz vor der Rente" Melanie Bilgens Kollege Andreas Salm steht, mag eine Frage der Perspektive sein. Die Jahre, die den heute 57-Jährigen noch vom Ruhestand trennen, wollte auch er aber nicht mehr abwarten. Nach seiner Motivation gefragt, zitiert der Ingenieur nicht nur eine Erhebung, der zufolge nur jeder fünfte Mann das Rentenalter überhaupt erreicht. Er erwähnt auch den frühen Tod eines Kollegen, der ihn nachdenklich stimmte. Und als eine Freundin von ihm nach Argentinien aufbrach, um dort für ein halbes Jahr Tango-Unterricht zu nehmen, stellte sich Andreas Salm selbst die Frage: "Was würde ich machen?"

Prioritäten verschieben sich

Die Antwort auf ziemlich genau diese Frage spielt für Melanie Bilgen bis heute wieder eine größere Rolle, als es vor ihrer Auszeit der Fall war. Die sieben Monate füllte die junge Ingenieurin unter anderem mit Reisen nach Mexiko, Kalifornien und Schottland – und noch so viel mehr. "Es war toll, so viel Zeit für meine Familie und Freunde zu haben", sagt sie etwa. "Vor der Auszeit war mir weniger bewusst, wie viel ich mitunter auf die lange Bank geschoben habe." Viel häufiger sei sie der Überzeugung gewesen, beispielsweise für wichtige Menschen gerade keine Zeit zu haben. Seit ihrem Sabbatical setze sie Prioritäten anders. "Wenn mir etwas wichtig ist, versuche ich jetzt auch, es sofort möglich zu machen", sagt Melanie Bilgen. "Und meistens funktioniert das auch."

Melanie Bilgen, hier im Quiraing-Massiv, Insel Skye, reiste unter anderem nach Schottland.
Melanie Bilgen, hier im Quiraing-Massiv, Insel Skye, reiste unter anderem nach Schottland. | Bild: Privat

"Man lernt, besser auf sich zu hören", geht das Fazit von Andreas Salm in eine ganz ähnliche Richtung. "Wir tun vieles für oder aus Rücksicht auf andere", beobachtet er. "Es ist aber nicht nur ganz toll, der Kapitän auf seinem eigenen Schiff zu sein. Es ist auch ganz wichtig, es zu sein."

Andreas Salm nahm sich ein komplettes Jahr die Zeit, um wieder der Kapitän auf seinem Schiff zu werden. Die Frage, was er während einer solchen Auszeit machen würde, hatte er sich mittlerweile in Form einer langen Liste ausführlich beantwortet.

"Man sieht die alltäglichen Orte und Dinge wieder anders"

Yoga-Unterricht stand ganz oben auf der Liste, also warum nicht gleich Yoga-Lehrer werden? Den Kurs nahm Salm in Indien – "gleichzeitig der beste Sprachkurs, den ich je hatte". Auf einer Terrasse in Goa erfüllte sich der Kressbronner den Wunsch vom Gitarrespielen. Seither kann er den Saiten "Knockin’ on Heaven's Door" entlocken. In einem Kloster in Nepal musste Salm sein Handy abgeben. "Ein ganz schrecklicher Moment", erinnert er sich. Kurz darauf stellte er jedoch fest, dass es sich auch gut ohne Handy aushalten lässt. Auf 800 Metern brach der passionierte Wanderer auf, um im Laufe der Tour auf bis zu 5400 Metern bei 17 Grad unter dem Gefrierpunkt zu übernachten. Nur eine von mehreren Touren während seines Sabbatjahres. "Das musst du machen, so lange du noch gesund bist", sagt Salm.

Andreas Salm in Nepal auf der Annapurna-Runde, hier auf dem Thorong-La-Pass, 5416 Meter.
Andreas Salm in Nepal auf der Annapurna-Runde, hier auf dem Thorong-La-Pass, 5416 Meter. | Bild: Privat

Magenprobleme kosteten ihn zwischenzeitlich zehn Kilogramm. Kein Problem von Dauer, entdeckte er doch in Istanbul seine Vorliebe für die dortige Küche. So weit weg ihn Teile seiner Auszeit führten, sagt Andreas Salm nach seinem Sabbatjahr doch auch: "Der schönste Fleck auf Erden ist Europa." Und das wurde ihm nicht nur bei Abstechern nach Portugal, Frankreich und Griechenland bewusst. "Man sieht auch die alltäglichen Orte und Dinge wieder anders", beschreibt Salm, der pünktlich zum Supersommer 2018 des vergangenen Jahres wieder am See war. Melanie Bilgen pflichtet ihm bei. So beeindruckend der vergangene Frühling in Schottland für sie gewesen sei: "Eigentlich ist der Frühling immer schön.“

Weder die Auszeit von Melanie Bilgen noch die von Andreas Salm ist damit komplett erzählt. "Viele haben im Nachhinein nicht verstanden, warum ich während dieser Auszeit auch viel Zeit zuhause verbracht habe", sagt Melanie Bilgen. Langeweile sei aber nie aufgekommen. Und auch bei Andreas Salm war das lediglich während des Klosteraufenthalts in Nepal der Fall – und das ganz bewusst. Auf seiner Liste standen eigentlich auch noch Renovierungsarbeiten. Dafür blieb am Ende des Sabbatjahres aber keine Zeit mehr. Überhaupt: Natürlich sei es gut, einen Plan zu haben, ergänzt er. Schön machen könne man es sich aber auch ohne Excel-Liste. "Man nimmt sich überall hin selber mit", sagt Salm. "Und wenn man ein zufriedener Mensch ist, ist man das fast überall."

Ein Recht auf ein Sabbatical gibt es nicht – aber Betriebsvereinbarungen und Argumente

In der freien Wirtschaft in Deutschland gibt es keinen gesetzlichen Anspruch auf ein Sabbatjahr. Die Möglichkeiten variieren von Arbeitgeber zu Arbeitgeber.

  • Rechtlich: Insbesondere in großen Betrieben werden Auszeit-Möglichkeiten häufig über Betriebsvereinbarungen geschaffen, erklärt Daniel Pohl, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei Kubon Rechtsanwälte, Friedrichshafen und Überlingen. "Gibt es solche Regelungen nicht, kann der Arbeitgeber auch nicht gezwungen werden, sich auf eine Sabbatical-Vereinbarung einzulassen." Arbeitnehmern mit Auszeit-Wunsch rät Pohl, im Gespräch mit den Vorgesetzten zum Beispiel Flexibilität bei der Wahl des Zeitpunktes zu sig-nalisieren. "Auch Arbeitgeber können von Auszeiten profitieren, je nach Branche etwa in auftragsarmen Jahreszeiten oder durch das Abfangen von Überkapazitäten." Auch die Bereitschaft, die Auszeit durch Überstunden auszugleichen, könne im Gespräch mit dem Chef überzeugen. Inwieweit sich über das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Gesetz zur Brückenteilzeit eine Auszeit-Möglichkeit durch die vorübergehende Reduktion der Arbeitszeit auf null Prozent ergibt, ist Pohl zufolge rechtlich noch nicht abschließend geklärt. Ein Punkt, den Arbeitnehmer neben der möglichen Veränderung ihrer Einkommenshöhe durch die Auszeit aber in jedem Fall bedenken sollten, ist der Sozial- und Krankenversicherungsschutz, um den sie sich – je nach Vereinbarung – dann möglicherweise selbst kümmern müssen.
  • Das ZF-Sabbatical ist Teil einer Betriebsvereinbarung. Am bestehenden Arbeitsverhältnis ändert sich durch eine Auszeit, wie oben beschrieben, nichts. Es wird lediglich durch eine Sabbatical-Vereinbarung ergänzt. Mitarbeiter haben die Möglichkeit, sich für mindestens vier bis maximal 48 Monate auszuklinken, erklärt Unternehmenssprecher Jochen Mayer. Der tatsächlichen Auszeit geht eine zu vereinbarende Phase voraus, in der das Gehalt bereits reduziert wird. Während der Abwesenheit erhält der Mitarbeiter weiter dieses reduzierte Gehalt und ist damit auch weiterhin beispielsweise kranken- und sozialversichert. Bei der Terminfindung werden betriebliche Erfordernisse und persönliche Wünsche in Einklang gebracht.
  • Auch bei Rolls-Royce Power Systems sehen Betriebsvereinbarungen Auszeit-Möglichkeiten vor. Vor der "Beruflichen Auszeit" wird das Arbeitsverhältnis nach Unternehmensangaben einvernehmlich beendet, der Arbeitnehmer erhält eine Wiedereinstellungszusage für das Ende seiner bis zu zwölfmonatigen unbezahlten Abwesenheit. Weiter besteht die Möglichkeit, bis zu drei Monate alle fünf Jahre mit einem reduzierten Entgelt freigestellt zu werden. Vor dieser Freistellungsphase werden die erforderlichen Stunden angespart.