9,9 Prozent der Häfler, die ihren Stimmzettel für den Gemeinderat abgaben, haben das Netzwerk für Friedrichshafen gewählt. Sind sie überrascht?
Fuhrmann: Ich habe mit vier Sitzen gerechnet. Wir haben eine Liste mit bekannten und sehr vernetzten Leuten in der Stadt und Persönlichkeiten drauf. Und jetzt sind wir die Wahlgewinner! Relativ betrachtet übertrifft unser Ergebnis auch das der Grünen, weil wir von null Prozent gestartet sind. Aus dem Stand fast zehn Prozent, das halte ich in Friedrichshafen für epochal.
Holeksa: Das Ergebnis hat sich angedeutet. Die Stimmung auf den Marktplätzen im Wahlkampf war sehr positiv. Ich hatte da schon das Gefühl, dass es Zeit ist für eine neue politische Kraft wie das Netzwerk.
Wie erklären Sie sich den Wahlerfolg?
Holeksa: Das Unzufriedenheits-Niveau der Bürger in der Stadt ist hoch. Das haben wir im Wahlkampf oft gehört. Die Erwartung an uns ist, dieses „weiter so“ zu beenden. Wir haben immer wieder gesagt, dass wir in dieser Stadt etwas bewegen wollen. Das Netzwerk hat jetzt einen Kredit bekommen, es anders zu machen. In fünf Jahren wollen wir daran gemessen werden.
Fuhrmann: Wir sind aber auch mit unseren Themen beim Wähler angekommen. Sozialer Wohnungsbau, öffentlicher Nahverkehr, die Belebung der Innenstadt: Das hat gezogen. Beispiel Parkgebühren: Warum soll der Autofahrer beim gleichen Eigentümer (Stadtwerk am See; die Redaktion) in Friedrichshafen mehr Geld fürs Parkhaus bezahlen als in Überlingen?
Zwei neue Bäder, der ISEK-Prozess oder der Ausbau der Kita-Landschaft sind Beispiele dafür, dass ja doch etwas ging…
Holeksa: Viele Häfler haben gesehen, was in den letzten Jahren unterlassen oder verzögert wurde. ISEK beispielsweise lieferte sehr viele Erkenntnisse, aber es hapert an einer zeitnahen Umsetzung, vieles geht zu langsam. Warum hat sich in der Innenstadt in den letzten Jahren so wenig getan? Warum brauchen wir so lange, um Visionen für den Uferpark oder den Hinteren Hafen zu entwickeln? Wir haben den Kompass, aber es geht nicht wirklich vorwärts, man macht zu wenig draus. Die Umsetzung fehlt. Die Stadt hat keinen wirklich gesamthaften Masterplan und braucht dringend eine Prioritätenliste. Die Frage ist doch, warum in einer wohlhabenden Stadt so wenig und dann noch so langsam passiert. Die finanziellen Mittel sind doch vorhanden. Es ist für uns ein Armutszeugnis, wenn wichtige Projekte abwiegelt werden, nur weil dies aus Sicht des Rathauses zu viele Projekte wären. Wir haben den Auftrag, diese Starre zu lösen und werden Bewegung genau in diese Themen bringen. Und wir wollen hier auch die dicken Bretter bohren.
Gibt es denn beim Netzwerk eine Prioritätenliste, was Sie im Gemeinderat zuerst auf den Weg bringen wollen?
Fuhrmann: Im Prinzip liegen die ersten zehn Anträge schon fertig geschrieben in der Schublade. Mit dem ersten Antrag wollen wir das 1-Euro-Ticket für den Stadtverkehr und 90 Minuten freies Parken in den Parkhäusern zur Abstimmung stellen, um endlich wieder Leben in die Innenstadt zu bringen. Ganz wichtig ist uns der soziale Wohnungsbau. Wir stellen uns eine Initiative für 1000 neue Wohnungen in serieller und ökologischer Bauweise im Fallenbrunnen vor. Wir werden beantragen, den Ratsbeschluss zum Seewald zu revidieren genau wie den Beschluss zum Teilabriss des Karl-Olga-Hauses. Hier könnte doch Wohnraum für Studenten entstehen. Im Fokus haben wir zudem das alte RAB-Gelände hinterm Bahnhof. Die Stadt muss die leeren Flächen aufkaufen, da gibt es keine Ausreden mehr.
Glauben Sie, dass Sie dafür im Gemeinderat Mehrheiten bekommen?
Fuhrmann: Wir werden mit den Grünen besprechen, was sie beispielsweise von der Idee halten, eine Bundes- oder Landesgartenschau nach Friedrichshafen zu holen. Solch ein Großziel sehen wir geeignet, um Initiativen für die Stadtentwicklung zu bündeln. Und wir wollen das Stadtlabor als Kreativschmiede in der Innenstadt reaktivieren.
Holeksa: Wir haben die schönste Uferpromenade am See und mit dem Zollhaus-Areal ein echtes Juwel mitten in der Stadt. Da gibt es so viele Möglichkeiten der Entwicklung. Was Bregenz oder Dornbirn geschafft haben, muss doch auch Friedrichshafen können.
Herr Fuhrmann, Simon Wolpold vom Listenplatz 2 ist Ihnen mit 8794 Stimmen den ersten Rang abgelaufen. Sie liegen knapp 2200 Stimmen hinter ihm. Ärgert Sie das?
Fuhrmann: Überhaupt nicht, und das war absehbar. Es macht mich glücklich, dass Simon so hervorragend abgeschnitten hat. Er hat mit Mitte 20 ganz viele etablierte Gemeinderäte hinter sich gelassen und ich sehe ihn sogar als künftigen OB-Kandidaten. Ich persönlich wollte nicht auf Platz 1, das wissen alle beim Netzwerk. Wer uns als Fuhrmann-Liste gesehen hat, ist halt zu kurz gesprungen.
Wer wird die Führungsrolle Ihrer Fraktion im Gemeinderat übernehmen?
Holeksa: Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht. Wir werden uns jetzt erst einmal sortieren und auch darüber sprechen.
Fuhrmann: Die Wahl war die Ouvertüre zum Konzert, jetzt legen wir erst richtig los. Das Netzwerk und dieses Ergebnis ist eine tolle Gemeinschaftsleistung. Noch vor einem halben Jahr war nicht absehbar, ob wir eine volle Liste präsentieren können. Jetzt haben wir über 84 000 Wählerstimmen bekommen und sitzen zu viert im Gemeinderat. Ich staune noch, dass so etwas in Friedrichshafen möglich ist.
Fragen: Katy Cuko
Zu den Personen
- Philipp Fuhrmann war 2016 Mitgründer des Netzwerks. Er trat 2017 als OB-Kandidat gegen Andreas Brand an und holte rund 16 Prozent der Stimmen. Der 51-Jährige ist Musikpädagoge und Gründer und Leiter der Orchesterschule Bodensee. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
- Jürgen Holeksa war von 2011 bis 2018 als Vorstand bei ZF für die Personalpolitik und den Rechtsbereich des Konzerns zuständig und ist heute unter anderem als Unternehmensberater tätig. Der 53-Jährige ist verheiratet und hat drei Kinder. Ehefrau Sabine kandidierte ebenfalls für den Gemeinderat auf der Netzwerk-Liste.