Täglich stehen sie vor ihnen, den Kita-Leiterinnen: Verzweifelte Mütter, die um einen Kita-Platz kämpfen. Wütende Eltern, die ihr Arbeitspensum nicht mehr schaffen, weil die Kita die Betreuungszeiten um viele Stunden pro Woche kürzen musste. Müde Kolleginnen, die am Limit sind, weil sie gerade noch so die Aufsichtspflicht einhalten können, das Wichtigste – die frühkindliche Bildung der Kinder – aber auf der Strecke bleibt. Brigitte Bauernfreund, Leiterin des Kinderhauses am Riedlepark, einer der größten Ganztagskitas in Friedrichshafen, sagt: „An allen Ecken und Enden herrscht große Not. Und wir Leitungen stehen mittendrin.“

Bild 1: "Kurz vor dem Kollaps": Kita-Leiterinnen appellieren an die Politik
Bild: Wienrich, Sabine
„Die Politik lässt Erzieherinnen, Leitungen, Eltern und Kinder sehenden Auges ins offene Messer laufen.“
Brigitte Bauernfreund, Kita-Leiterin

Brigitte Bauernfreund, Jasmin Lutz (Kindergarten S. Petrus Canisius) und Mona Kayan (Kindergarten Zum Guten Hirten) haben beschlossen, laut zu werden. Der Öffentlichkeit zu berichten, was es bedeutet, in einem Bereich zu arbeiten, der chronisch unterfinanziert ist. Alle drei leiten katholische Kindergärten in Friedrichshafen. Alle drei sagen, dass sie mit ihrem Träger, der Katholischen Gesamtkirchengemeinde, zufrieden sind. Aber ihr Unmut gegenüber politischen Entscheidungsträgern wächst von Tag zu Tag. „Das Kita-System steht kurz vor dem Kollaps“, sagt Bauernfreund, „und die Politik lässt Erzieherinnen, Leitungen, Eltern und Kinder sehenden Auges ins offene Messer laufen.“ Auch in Karlsruhe herrscht zeitweise ein Ausnahmezustand in den Kitas.

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Die landesweite Kita-Krise, sie ist auch in Friedrichshafen omnipräsent. Rund 400 Familien gehen bei der Kitaplatz-Suche diesen Herbst leer aus, obwohl sie alle einen Rechtsanspruch hätten. Dabei sind die meisten Gruppen bereits bis zum gesetzlichen Maximum gefüllt. 25 Kinder auf 2,2 Fachkräfte, sieben Stunden am Tag – das ist die Theorie. „In der Praxis ist oft eine Fachkraft allein in der Gruppe“, sagt Leiterin Jasmin Lutz, „mehr als zu schauen, dass die Kinder sich nicht wehtun, geht dann nicht mehr.“ Während der Corona-Pandemie hat das Land kurzzeitig die Standards gesenkt: Eine Erzieherin pro Gruppe reicht, wenn eine „weitere geeignete Person“ mit im Raum ist. Gemeint sind Praktikanten, FSJler, Auszubildende, Kinderpfleger.

Doch was als Ausnahme für die Notlage der Pandemie gedacht war, wurde nun zur notwendigen Regel erklärt. „Senkung des Mindeststandards“ nennt es Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Man könnte auch sagen: Schlechtere Betreuungsqualität für die Kinder und schlechtere Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen.

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Für Brigitte Bauernfreund und ihre Kolleginnen klingt die Reaktion der Politik auf den Fachkräftemangel wie blanker Hohn. „Es war bereits Mitte der 1990er klar, dass Erzieher fehlen werden, wenn der Rechtsanspruch ab dem 1. Lebensjahr kommt, jetzt kommt noch der Anspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule dazu“, sagt Bauernfreund, „die Politik macht Familien und Arbeitgebern Versprechen – und trägt sie dann auf unserem Rücken aus.“ Die Antwort auf den Fachkräftemangel könne doch nicht sein, den Erzieher-Beruf noch unattraktiver zu machen, als er für viele junge Menschen ohnehin schon sei.

Bild 2: "Kurz vor dem Kollaps": Kita-Leiterinnen appellieren an die Politik
Bild: Wienrich, Sabine
„Ich finde keine Fachkraft für meine heilpädagogische Gruppe mehr.“
Mona Kayan, Leiterin des Kindergartens Zum Guten Hirten

Tatsache ist: Jede zehnte Erzieherstelle war laut einer Erfassung der Stadtverwaltung Friedrichshafen im April unbesetzt. Hinzu kommen kurzfristige Ausfälle wegen Schwangerschaft, oft auch wegen längerer Krankheiten. Vertretungsmöglichkeiten gibt es kaum mehr. Der Markt ist wie leer gefegt, Stellen bleiben unbesetzt. „Ich suche seit einem Jahr eine Fachkraft für meine heilpädagogische Gruppe“, sagt Kindergartenleiterin Mona Kayan. Jetzt hat die Gruppe, in der Kinder mit Förderbedarf betreut und therapiert werden, einen Aufnahmestopp.

Bild 3: "Kurz vor dem Kollaps": Kita-Leiterinnen appellieren an die Politik
Bild: Wienrich, Sabine
„In manchen Fällen müssen wir Kindern kündigen, um die anderen Kinder und Mitarbeiterinnen zu schützen.“
Jasmin Lutz, Leiterin des Kindergarten St. Petrus Canisius

Dabei sei gerade jetzt, nach zweieinhalb Jahren Pandemie, Frühforderung wichtiger denn je. „Früher hatten wir vielleicht zwei, drei Kinder mit einem erhöhten Bedarf in der Gruppe“, sagt Jasmin Lutz, „heute sind etwa 40 Prozent der Kinder auffällig und brauchen gezielte Förderung.“ Immer wieder komme es vor, dass Kinder gekündigt werden müssten, weil sie etwa andere Kinder schlagen, beißen, hauen. „Es kostet wahnsinnig viel Zeit und Papier, bis wir überhaupt Förderung für ein Kind mit Bedarf bekommen, manchmal vergeht ein Jahr“, erklärt Lutz. „Und in manchen Fällen bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Mitarbeiterinnen zu schützen und das Kind zu kündigen, wohlwissend, in welche persönliche Katastrophe wir das Kind und seine Familie damit bringen.“ Denn die Zeit, einem solchen Kind zu helfen – die fehlt. Ein Beispiel, an dem klar wird, mit welchen hohen körperlichen und psychischen Belastungen der Erzieherberuf heute verbunden ist.

Kinderrechte – sie können in Bildungseinrichtungen wie Kitas nur dann gelebt werden, wenn genügend Personal da ist.
Kinderrechte – sie können in Bildungseinrichtungen wie Kitas nur dann gelebt werden, wenn genügend Personal da ist. | Bild: Wienrich, Sabine

Doch statt Gruppen zu verkleinern, bessere Betreuungsschlüssel zu ermöglichen und Bedingungen für Kinder und Fachkräfte zu verbessern, passiert genau das Gegenteil. „Der Dauerstress macht krank“, mahnt Bauernfreund und verweist auf steigende Krankenstände. Hinzu komme: die Idee, fachfremdes Personal einzusetzen, um den Fachkräftemangel abzufedern, gehe ebenfalls auf Kosten der Kolleginnen. „Heute haben wir Menschen in einer Kita, die früher nicht mal zum Vorstellungsgespräch geladen worden wären“, sagt sie, „und wir haben nicht mal die Möglichkeit, sie an die Hand zu nehmen, weil wir selbst völlig überlastet sind.“

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Was helfen würde? Da müssen die Kita-Leiterinnen nicht lange nachdenken. „Das System gehört vom Kopf auf die Beine gestellt“, so Bauernfreund, „und sowohl Kommune als auch Land und Bund müssen deutlich mehr investieren.“ Den Rechtsanspruch, den hält sie immer noch für grundsätzlich richtig. Doch die Umsetzung sei in Deutschland komplett unterfinanziert gewesen.

„Oft wird das eher geringere Gehalt einer Erzieherin als Grund für den Fachkräftemangel angeführt“, sagt Bauernfreund, „aber das ist es nicht. Viele fragen sich nach wenigen Jahren, wie sie das bis zur Rente durchhalten sollen und gehen dann lieber ans Band.“ Bauernfreund, Lutz und Kayan lächeln müde: „Wären wir ein Automobilzulieferer und müssten die Produktion aufgrund des Fachkräftemangels stoppen, gäbe es einen Krisengipfel und die Millionen würden fließen.“ Doch hier gehe es ja nicht um Autos. Nur um Kinder.

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