190 Kilo wog Fabian Bisinger, als er beschloss, seinen Fettpolstern den Kampf anzusagen. Im Juni 2020 trug er T-Shirts Größe 6 XL und hatte gesundheitlich bereits massive Probleme. Bluthochdruck, erhöhte Leber- und Blutzuckerwerte, Harnsäure- und Cholesterinspiegel zu hoch, dazu Herzrasen mit Puls 110 ohne Anstrengung – und heftige Rückenschmerzen.
Vom dicken Kind zum Adipositas-Patienten
Dick war er schon als Kind, erzählt der 24-Jährige. „Ich hab‘ viel Junkfood und später einfach zu viel gegessen.“ Dazu wenig Bewegung und Schilddrüsen-Probleme: Seine Krankengeschichte liest sich wie eine Anleitung zur Fettsucht. Das Ergebnis: Ein junger Mann mit BMI 55 und schwerer Adipositas. Normal ist ein Bodymaß-Index (BMI) von etwa 25.

Heute steht Fabian Bisinger als schlanker Mann auf der Waage und kann es manchmal selbst kaum glauben, was er geschafft hat. Bei 92,4 Kilogramm bleibt die Anzeige stehen. „Ich hab‘ mich halbiert“, sagt er lächelnd. Alle Werte sind wieder im grünen Bereich. Heute trägt er gern figurbetonte Hemden, frisiert sein Haar anders, geht gern unter Leute. Er macht täglich zehn bis 20 Minuten Sport und isst auch wieder Chicken Wings, wenn er Appetit darauf hat. In Maßen, nicht mehr in Massen.
Wie hat er diese Metamorphose hingekriegt? „Mit großer Disziplin und unserer Hilfe“, sagt Julia Pilgram. Die Ärztin leitet das Optifast-Programm im Adipositas-Zentrum am Klinikum Friedrichshafen. „Der Wille ist natürlich wichtig. Zu einer solch großen Veränderung muss man bereit sein. Aber Herr Bisinger hat uns auch vertraut, dass wir die richtigen Tipps haben“, sagt Julia Pilgram.
Zum Abnehmen ist es nie zu spät
Seit zehn Jahren begleitet sie Menschen mit Adipositas, die ihr starkes Übergewicht dauerhaft reduzieren wollen. 2011 startete der erste Kurs. Sie betreute und beriet seither über 350 Patienten zwischen 18 und 70 Jahren. Aktuell sind es 38 Teilnehmer in zwei laufenden Gruppen, darunter sogar eine Patientin mit 74 Jahren, so Julia Pilgram. Zum Abnehmen sei es nie zu spät. Zusammen mit verschiedenen Therapeuten lernen sie in der 52 Wochen dauernden Gruppen-Therapie, wie sie mit einem neues Essverhalten und mehr Bewegung den Jo-Jo-Effekt vieler Diäten verhindern – unter medizinischer Kontrolle.
In der Fasten-Phase ist normales Essen tabu
Fabian Bisinger hat sich von seiner Mutter überzeugen lassen, als er sich entschloss, es mit Optifast zu versuchen. „Der Leidensdruck war schon groß. Mir war bewusst, dass ich zu viel Gewicht habe. Aber die Motivation kam erst nach dem Start, als ich merkte: Da geht echt was“, erzählt er. Dabei sei der Anfang hart gewesen. In der Fasten-Phase des Programms ist normales Essen tabu. Zwölf Wochen lang gibt es nur eine spezielle Trinknahrung oder Cremes aus Beuteln, die 860 Kalorien pro Tag liefern. Da knurrt der Magen in den ersten zwei, drei Tagen. Danach verliere sich aber diese Hungergefühl komplett, sagt der 24-Jährige.

Diese Formula-Diät ist eine Form des modifizierten Fastens, erklärt Julia Pilgram. Stark vereinfacht funktioniert das so: Die Kalorienzufuhr wird so weit gedrosselt, dass sich der Körper die Energie aus den Fettzellen holen muss. Durch deren Abbau bilden sich sogenannte Ketonkörper, die als Energiequelle vor allem für das Gehirn dienen. Die Spezialnahrung sichert eine ausreichende Mindestversorgung mit Proteinen, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralstoffen – mit nur 860 Kalorien pro Tag.
Spezialnahrung für jede Mahlzeit
„Mit mehr oder weniger Kalorien funktioniert das nicht, haben Studien gezeigt, ohne dass Muskelgewebe nennenswert abgebaut wird“, sagt die Ärztin. Früher hätten sie diese Drinks im Krankenhaus für die Patienten gemixt. Inzwischen gibt es das „Essen“ in Pulverform in einzeln verpackten Beuteln pro Mahlzeit. Außerdem habe die Tüten-Nahrung noch einen wichtigen psychologischen Effekt. „Das Suchtmittel Essen ist erstmal nicht erlaubt. Den meisten Patienten fällt es so leichter durchzuhalten, als sich bei lieb gewordenen Lebensmitteln einschränken zu müssen.“
Fabian Bisinger hat nicht nur diese Zeit konsequent bewältigt. Nach drei Monaten begann die Umstellungsphase. Alle zwei Wochen wurde nun ein Beutel nach dem anderen durch eine „richtige“ Mahlzeit ersetzt, ohne allerdings die Kalorienzufuhr zu erhöhen. Dann war ein halbes Jahr herum – und der junge Mann hatte bereits 60 Kilo abgenommen.
Im zweiten Halbjahr wird die Nahrungsmenge dann Schritt für Schritt erhöht und weiter penibel dokumentiert, was und wieviel man isst, erzählt er – bis der Zeiger auf der Waage wieder nach oben ausschlägt. „Bis zu etwa 2000 Kalorien pro Tag nehme ich nicht zu“, hat der 24-Jährige so heraus gefunden. Mit seinem Wissen über das „richtige“ Essen und allerlei Tipps kann er heute damit umgehen und bei Bedarf gegensteuern, wenn er beim wöchentlichen Wiegen den Negativtrend feststellt.


30 Kilo habe er abnehmen wollen. Zum Programmende nach 52 Wochen waren es fast 93 Kilo weniger. Und in den Wochen danach bis zu unserem Treffen nahm er, ehrgeizig geworden, noch mal fünf Kilo ab. Trotz Corona-Pandemie habe die Therapie funktioniert, obwohl die wöchentliche Gruppensitzung und sogar die Sportstunden lange Zeit nur online stattfinden konnten. Fabian Bisinger will jetzt endlich eine Ausbildung beginnen, neu durchstarten. „Ich bin froh, dass es nicht mehr so ist“, sagt er mit Blick auf sein Foto von Juni 2020. Heute traue er sich wieder auf den Sportplatz, nehme am Leben draußen teil.
Allerdings müssen die meisten Patienten diese Therapie selbst bezahlen – und die ist mit 3390 Euro für das Komplettprogramm in 52 Wochen teuer. „Viele Menschen gehen hier nach der Beratung weinend raus, weil sie sich das nicht leisten können“, sagt Julia Pilgram, die sich über diese Zwei-Klassen-Medizin seit Jahren ärgert. Noch dazu, weil stark übergewichtige Patienten erst dann eine Schlauchmagen-OP oder einen anderen Adipositas-chirurgischen Eingriff von ihrer Krankenkasse bezahlt bekommen, wenn sie vorher auf konservativem Weg versucht haben, den BMI zu senken.
Zwei-Klassen-Medizin für Adipositas-Patienten
Der Grund: Die Gewichtsreduktion bei Adipositas gehört nicht zum Leistungskatalog der Krankenkassen. Nur einzelne übernehmen die Kosten für das Optifast-Programm freiwillig. Dazu gehört die BKK Siemens oder die BKK MTU, bei der Fabian Bisinger versichert ist. Er hat die Hälfte der Kosten erstattet bekommen, nachdem er die Therapie erfolgreich abgeschlossen hatte. Den Restbetrag übernehme die Kasse auch, wenn er bis zwei Jahre danach nicht rückfällig wird.
Chronische Erkrankung ein Leben lang
„Adipositas ist eine chronische Erkrankung und bleibt eine lebenslange Aufgabe“, mahnt Julia Pilgram. Fettreserven sind für den Körper eine Überlebensstrategie, „und wenn ein Körper mal 190 Kilo hatte, dann will er dahin wieder zurück“. So sei er halt programmiert. Mit der im Kurs erlernten Gegenstrategie, mit Verstand und Disziplin könnten Patienten wie Fabian Bisinger auf dem eingeschlagenen Weg bleiben. Ein Drittel der Optifast-Teilnehmer schaffe das ohne weitere Hilfe, ein weiteres Drittel nur mit Anstrengung und Nachsorge der Therapeuten. Ein Drittel scheitere aber und wird rückfällig, weil alte (Ess-)Gewohnheiten wieder überhand nehmen. Der nächste Kurs startet im Februar 2022.