Damit hatte niemand gerechnet. Höchstens 20 Leute, so glaubte man, würden zur Stolpersteinverlegung in Friedrichshafen kommen. Doch die Allmandstraße füllte sich. Für Autos war kein Durchkommen mehr und Detlev Maaß, Leiter der Volkshochschule Friedrichshafen, konnte deutlich mehr Häfler Bürger begrüßen. Was motivierte sie, an diesem Nachmittag in der Kälte auf der Straße zu stehen?
Irmgard Sollinger von den Omas gegen rechts sind die Stolpersteine wichtig. Als eine leise, aber beständige Erinnerung, sagt sie. Auch in der italienischen Partnerstadt Imperia gebe es mehr als 50 dieser Steine für Menschen aus dem Widerstand und für Juden, die nach Deutschland ins Konzentrationslager gebracht und dort ermordet wurden. Im Bürgersteig ist bereits ein kreisrundes Loch in den Asphalt gebohrt worden. Dort hinein wird der Künstler Gunter Demnig, die in Beton gegossene Messingplatte mit der kurzen Vita von Alfons Schmidberger eigenhändig verlegen. Es ist der zweite Stolperstein in Friedrichshafen, der erste wurde 2013 in der Zeppelinstraße verlegt und erinnert an Elsa Hammer, 1943 deportiert.

1939 im KZ Dachau registriert
Alfons Schmidberger kam am 24. Februar 1916 in Friedrichshafen zur Welt. Er war Maschinenmechaniker, blieb ledig und wohnte hier in der Allmandstraße 42. Am 24. März 1939 wurde er auf Veranlassung der Staatspolizei ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen und dort unter der Nummer 32.800 als homosexueller Schutzhäftling registriert.
1939 wurde er zusammen mit rund 1600 weiteren Dachau-Häftlingen, unter ihnen 47 Homosexuelle, in das KZ Mauthausen überstellt und 1942 mit weiteren Homosexuellen in das KZ Stutthof verlegt. Für einige Zeit war er wohl bei den Deutschen Ausrüstungswerken als Schuhmacher eingesetzt, kam aber als nicht mehr einsatzfähig in die sogenannte Waldkolonne, wurde im März 1944 entlassen und vermutlich direkt an die Wehrmacht überstellt. Als Soldat starb er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Gefangenenlager Friedrichsthal.
Stolpersteine und Paragraf 175
Wie weit die Ausgrenzung noch in die heutige Zeit reichte, macht Wolf Bruske, einer der anwesenden Bürger, deutlich: „Ich war Gemeindepastor der Baptistengemeinde in Friedrichshafen“, erzählt er. Als es aufgrund eines Burnouts zu einem Auflösungsvertrag mit seinem Arbeitgeber kam, fand er als Homosexueller deutschlandweit keine Stelle als Pastor mehr.
„Danke, dass Sie ein Stachel in unserem Fleisch sind“
„Ein Mitbürger liebt Männer – oh je!“ Mit diesen Worten wendet sich Oberbürgermeister Simon Blümcke an seine Häfler Mitbürger. Heute, sagte er, könne ein OB mit einem Mann verheiratet sein. Und trotzdem würden noch immer bestimmte Gruppen ausgegrenzt. Umso wichtiger sei eine lebendige Erinnerungskultur. „Danke Herr Kliebenschedel, dass Sie ein Stachel in unserem Fleisch sind.“

Thomas Kliebenschedel, Impulsgeber der zweiten Stolpersteinverlegung in Friedrichshafen, kam 1965 zur Welt und wuchs in Friedrichshafen auf. Bereits als Kind interessierte er sich für das V2-Werk und begann 1999 mit der Recherche in Raderach. Die Bekanntschaft mit einem ehemaligen Zwangsarbeiter aus dem dortigen Arbeitslager verhalf ihm zu einer Transportliste von 417 Zwangsarbeitern, die im November 1943 von dort in das KZ Buchenwald überstellt wurden.
Häfler macht auf Schmidbergers Schicksal aufmerksam
Im Laufe weiterer Recherchen stieß Kliebenschedel dann im Jahr 2000 auf die Schreibstubenkarte von Alfons Schmidberger. 2023 wollte er dessen Schicksal in Friedrichshafen bekanntmachen und an junge Menschen herantragen. Denn das Thema sei nur zu greifen, wenn man es begreift, findet er. Und: „Wir müssen einen Gegenpol zu den Tendenzen in unserem Land schaffen.“ Detlev Maaß setzte sich dafür ein und holte das Thema an die Volkshochschule.

Dass die NS-Zeit auch Jugendliche berührt, macht der 17-jährige Johannes Harder klar. „Als Schüler werden wir vielfach mit der Schuldfrage konfrontiert“, sagt er in seiner Ansprache. Diese sei schwierig zu beantworten, denn seine Generation trage keine Schuld. Sie sei vielmehr eine Kollektivschuld, an die die deutsche Bevölkerung erinnert werden müsse. Ist das gerecht? Ja, findet er, die Deutschen müssten sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. „Sie sollten darauf achten, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“
„Wir können die Zukunft gestalten“
Und Aaron Sternagel, als Kind bereits mit Stolpersteinen in Konstanz konfrontiert, sagt: „Wir können nicht die Vergangenheit ändern, aber wir können die Zukunft gestalten.“ Der 18-jährige Schüler beendet seine Rede deshalb mit dem Aufruf: „Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Stimmen derer, die unterdrückt wurden, nie verstummen. Lasst uns die Werte von Toleranz, Demokratie und Menschenrechten hochhalten und dafür sorgen, dass sie in unserem täglichen Leben verwirklicht werden.“

Doch was störte die Nazis an Homosexuellen? Ein Mann sollte ein Held sein, ein „Erzeuger des ergesunden Nachwuchses“, erklärt Friederike Lutz, Direktorin des Schulmuseums. Deshalb habe nur die Ehe zwischen Mann und Frau den Nachwuchs geliefert, der die „Kampfkraft des Reichs“ sichern sollte. Frauen spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Zwar gerieten auch lesbische Frauen in die Schusslinie der Nazis, aber der Paragraf 175 galt nicht für sie. Friederike Lutz endet mit einem Zitat von Siegfried Lenz: „So seltsam es klingen mag: Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört uns, so wie uns die übrige eigene Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben, ist eine Illusion; denn die Herausforderungen und die Heimsuchungen nehmen kein Ende.“