Mit einem eindringlichen Appell eröffnete Kirsten Stüble, Vorsitzende des SPD-Ortsverbands Überlingen, die diesjährige Gedenkaktion. Sie erinnerte an die Millionen Opfer, die während des NS-Regimes systematisch ermordet wurden. „Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet – Massengräueltaten unvorstellbaren Ausmaßes“, erklärte Stüble. Doch auch Millionen weitere Menschen fielen dem Terrorregime zum Opfer. „Es ist unsere Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten.“ Die Gemeinderätin wies dabei auf die Bedeutung der Stolpersteine hin: „Mit den Stolpersteinen gibt es das weltweit größte dezentrale Denkmal, das an die Vernichtung erinnert.“ Mit diesen Worten schloss sie ihre Einführungsrede.
Auch in Überlingen wurden zahlreiche Menschen Opfer des NS-Regimes. Ihre Stolpersteine sind heute ein fester Bestandteil des Stadtbildes. Zum Gedenktag rief die SPD die Bürgerinnen und Bürger zum gemeinsamen Putzen der Stolpersteine auf. Begleitet wurde die Aktion vom Historiker Oswald Burger, der bewegende Geschichten über die Schicksale der Menschen hinter den Steinen erzählte.
Darum ist es so wichtig, nicht zu vergessen
Jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland zwischen 18 und 29 Jahren kann laut einer Umfrage der Jewish Claims Conference mit dem Wort Holocaust nichts anfangen. Gerade dann ist es wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, findet auch Brigitte Kennerknecht. „Solche Veranstaltungen sind wichtig und leider entdeckt man oft neue Dimensionen der Grausamkeit.“ So etwas darf nicht erneut passieren, findet sie. Sie appelliert vor allem auch an die jungen Leute, sich die Mühe zu machen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und hoffe, dass auch in der Schule daran erinnert wird.

Auch Jürgen Schmitz war bei der Aktion dabei. „Wir müssen uns selbstbewusst erinnern, es gibt kaum ein Land, das sich so sehr mit der eigenen Geschichte beschäftigt wie Deutschland.“ Weiter sagt er: „Wir dürfen niemals vergessen, was damals vorgefallen ist und müssen dafür sorgen, dass wir keine Rückschritte in der Erziehungskultur machen.“ Auch für ihn sind die Zahlen der Studie erschreckend.
Hermann und Barbara Levinger
Im strömenden Regen fängt Burger an zu erzählen. Die Menschentraube von rund 40 Personen hört bei den drei Stolpersteinen in der Bahnhofstraße am heutigen Bauamt zu. „Das ist der letzte freiwillig gewählte Wohnsitz von Hermann und Barbara Levinger.“ Hermann, der Vater von Barbara, ist in Karlsruhe als Kind jüdischer Eltern geboren. Während seines Jura-Studiums konvertierte er zum protestantischen Christentum, so der Historiker. 1902 heiratete er die Witwe Maria Karolina von Bünau. Mit ihr bekam er 1904 seine Tochter Barbara.


Im selben Jahr übernahm er in Überlingen die Aufgabe des Regierungsrats in Überlingen. Er übersah damit als Repräsentant des Großherzogtums Baden die Politik in Überlingen. Wie Burger meint, stand Levinger über dem Oberbürgermeister. 1918 habe er trotz Ende des Großherzogtums Badens seinen Posten in Überlingen behalten dürfen, erklärt Burger. „Mit 65 Jahren ging er 1930 in Pension und zog nach Wiesbaden.“

Seine Tochter wuchs in der Zwischenzeit zu einer Schriftstellerin und Schauspielerin heran und machte sich einen Namen in den Überlinger Kreisen. Bis 1929 war sie zwei Jahre lang am Stadttheater Konstanz angestellt. Sie zog mit ihrem Vater nach Wiesbaden. Wie der Historiker erklärt, sei der Grund für den Umzug eine Krankheit der Ehefrau gewesen. Sie verstarb 1933 in Wiesbaden. Ab 1938 werden sie vom NS-Regime als Juden erklärt.

In Wiesbaden werden Vater und Tochter separiert, Barbara musste Zwangsarbeit leisten. 1944 waren sie wieder gemeinsam in einem Judenhaus, sagt Burger. Im Dezember 1944 erfuhren sie, dass sie mit dem letzten Zug am 12. Dezember 1944 nach Auschwitz gebracht werden sollen. Am 8. Dezember entschieden sich die Levingers Gift zu nehmen. Hermann stirbt noch am 8. Dezember, seine Tochter erst am 10. Dezember, erzählt der Historiker. „Ihr letzter Wohnort war zwar Wiesbaden, jedoch war ihr Lebensmittelpunkt in Überlingen.“ Der Sohn der Mutter aus erster Ehe brachte ihre Asche nach Überlingen.

Erinnerungen an die Familie Levi
Weitere Geschichten hinter Stolpersteinen befinden sich in der Münsterstraße. In dem gelb gestrichenen Haus, wo heute die Bäckerei Diener und Otto Müller drin sind, lebten vor über 100 Jahren die Familie Levi. Burger sagt: „1891 eröffnete Vater Wilhelm Levi hier in bester Lage ein Textilgeschäft.“ Er blieb von der Eröffnung bis 1938 selbstständig. Er hatte zwei Söhne, sein erster Sohn, Karl, fiel im Ersten Weltkrieg in Verdun. Mit seinem zweiten Sohn Viktor führte er das Textilgeschäft.

Gemeinsam mit seiner Frau Julie bekam Viktor 1924 und 1926 jeweils eine Tochter. Die jüdische Familie führt das Geschäft bis 1938 zur Reichspogromnacht. „Nach der Reichspogromnacht wurde Viktor festgenommen und nach Dachau gebracht“, sagt Burger. Dort bekam er unter der Bedingung, dass er Haus und Geschäft verkaufe und mit seiner Familie auswandere, wieder frei. Seine beiden Töchter konnten mit einem Kindertransport nach England flüchten.
Die Familie verkauft das Haus an den Nachbar und floh am 15. August 1939 nach England. Dort wurde die Familie wieder vereint. Anschließend wanderten die Levis weiter nach Louisville in Kentucky (USA) aus. Die gesamte Familie Levi überlebte, hatte jedoch alles in Deutschland verloren. Wilhelm starb 1952, sein Sohn 1977, dessen Frau 1971 und die beiden Kinder von Viktor und Julie starben erst nach der Jahrtausendwende.
Franz Klauser hinter dem runden Fenster
Den letzten Halt beim Stolpersteine putzen wurde vor dem ehemaligen Krankenhaus St. Ulrich gemacht. Hier lebte einst Franz Klauser, so Burger. 1907 wurde er in eine katholische Familie geboren. Ab 1937 arbeitete er als Krankenpfleger im St. Ulrich. Zudem bezog er ein Zimmer unter dem Dach. Burger sagt: „Oben hinter dem runden Fenster hat Klauser gelebt.“ Wie Burger erklärt, fühlt Klauser sich zu Männern hingezogen. Zu damaligen Zeiten, eine Straftat.
Am 8. Januar 1942 wurde er wegen „Widernatürlicher Unzucht“ nach Paragraf 175 des damaligen Strafgesetzbuches verhaftet und am 19. März 1942 vom Landesgericht Konstanz deswegen zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Direkt nach der Haftstrafe kam er in KZ Natzweiler-Struthof nahe Straßburg. Am 1. oder 2. November 1944 wurde er ins KZ-Außenlager Ladelund nahe der deutsch-dänischen Grenze verlegt. Dort starb er wenige Tage später, am 6. November, so Burger.