Nora ist ein bisschen aufgeregt. Ein ums andere Mal holt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren ihre Unterlagen aus der Tasche und blättert. Sie schaut auf die kleine Gruppe, die sich vor der Alten Aula in der Tübinger Altstadt versammelt hat, dann beginnt sie zu erzählen. Von Elfriede Spiro, einer Frau aus Tübingen, die als getaufte Jüdin wegen ihrer Herkunft 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde.

Erst leise, dann mit immer sicherer werdender Stimme berichtet sie von den letzten Monaten der damals 48-Jährigen. Die Gymnasiastin erzählt aber auch, wie es jetzt in Terezin – so heißt Theresienstadt heute – aussieht und wie sie den Ort bei einer Exkursion erlebt hat. Nora ist Jugendguide und an diesem Sonntag hat die 16-Jährige beim Stadtgang „Theresienstadt und Tübingen“ in der neuen Rolle ihren ersten öffentlichen Auftritt.

Gemeinsam mit dem Team um Leiter Wolfgang Sannwald und 13 weiteren angehenden Jugendguides hat sie im Herbst jene Strecke zurückgelegt, auf der damals Deportierte von Stuttgart-Killesberg aus verschleppt wurden. Mit dem Zug über Nürnberg, Cheb bis nach Bohusovice, das damals Bauschowitz hieß. Bis in die einstige Garnisonsstadt Theresienstadt sind es dann noch rund drei Kilometer zu Fuß.

„Hier kotzte Goethe“

„Der Weg war lang und anstrengend“, sagt Nora, die an diesem Tag über das Schicksal der Tübinger jüdischen Glaubens erzählen will, die während der NS-Zeit in dem Lager im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren interniert waren. 141.000 Menschen waren dort eingesperrt. 15 von ihnen kamen aus der Unistadt am Neckar. Keine und keiner hat überlebt. Zwei weitere Tübinger, die über Umwege nach Theresienstadt kamen, wurden dort am 8. Mai 1945 befreit.

Das Krematorium in Theresienstadt: Tausende Menschen kamen hier zu Tode, darunter auch 15 aus Tübingen.
Das Krematorium in Theresienstadt: Tausende Menschen kamen hier zu Tode, darunter auch 15 aus Tübingen.

Noras Zuhörerinnen und Zuhörer sind geschätzt mindestens dreimal so alt wie die junge Jugendguide und ganz Ohr. Bei ihren nächsten Einsätzen wird sie auch auf Gleichaltrige treffen, die sie für ihr Thema erst gewinnen muss. Sannwald hat sich den Treffpunkt bewusst ausgesucht.

In der Münzgasse 13, wo heute Studenten wohnen, war in der NS-Zeit die Polizeidienststelle untergebracht. Kriminalobersekretär Christian Wendnagel, dessen Unterschrift auf der „Transportliste der abzuschiebenden Juden der Stadt Tübingen“ steht, arbeitete dort. Ums Eck hängt ein Schild: Hier kotzte Goethe.

Judenverfolgung passierte in der Nachbarschaft

Nora hat sich für den Tübinger Rundgang mit dem Leben von Elfriede Spiro beschäftigt. 1894 als Kind einer jüdischen Familie geboren, später ebenso wie der Vater getauft und dann trotzdem aus Rassenhass ermordet. Zusammen mit der Gruppe steht Nora wenig später vor dem Modehaus, in dessen Obergeschoss die Familie einst wohnte. Der Stolperstein, der an sie erinnert, liegt vor einem anderen Haus, in dem die Familie später wohnte.

Nora hat Fotografien mitgebracht, Kopien von Akten, darunter die Transportliste mit dem Namen Elfriede Spiros. Die Frau, die in den Akten als „ledige Haustochter“ geführt wurde, stand im August 1942 auf einer der Transportlisten und wurde im September ins Ghetto verschleppt. Gestorben ist sie am 23. Januar 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Bei dem Rundgang wird deutlich, dass Judenverfolgung in der Nachbarschaft passierte, nicht nur im fernen Berlin.

Beim Stadtgang der Tübinger Jugendguides werden Bilder aus Terezin gezeigt. Dort war einst das Ghetto Theresienstadt untergebracht.
Beim Stadtgang der Tübinger Jugendguides werden Bilder aus Terezin gezeigt. Dort war einst das Ghetto Theresienstadt untergebracht. | Bild: Brigitte Gisel

Jugendguides kommen zu Wort, wo die Stimmen der Zeitzeugen verstummen. Vom Unrecht, den Verbrechen der NS-Dikatatur und dem Leid der Verfolgten erzählt von nun an die Generation der Enkel. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs braucht es neue Mittel, um die Erinnerung lebendig zu erhalten und sie nicht zu einer Epoche unter anderen im Geschichtsunterricht werden zu lassen. So werden Jugendguides zu Erben der Erinnerung.

Sie recherchieren unter Anleitung eigenständig in Originalquellen, sie fahren an Orte wie das ehemalige Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass oder nach Terezin und machen sich ein eigenes Bild. Emotionen sind dabei durchaus erwünscht. Bei Stadtgängen und Führungen tragen sie dann weiter, was sie erfahren haben – und wie das auf sie gewirkt hat. Das erhält Geschichte lebendig, ohne ihr einen Disneyland-Faktor anzuhängen.

„Das ging unter die Haut“

Auch die 16-jährige Emma aus Dusslingen bei Tübingen ist Jugendguide. Im Rahmen ihrer Qualifizierung war auch sie in diesem Herbst bei der Reise ins ehemalige Ghetto in Terezin dabei. „Das ging schon unter die Haut“, sagt sie.

Die Gruppe hat in dem Ort gewohnt, der für viele Menschen Durchgangsstation in die Vernichtungslager geworden war. Es wirkt, als habe es einen tiefen Eindruck auf die jungen Guides gemacht, dass der Ort des Grauens heute wieder ein ganz normales tschechisches Städtchen geworden ist. Vietnamesisches Streetfood inklusive.

Schwer zu ertragen fand Emma das frühere Krematorium: „Das Schlimmste war der Geruch.“ Nora ging es ähnlich. „Das war zu hart für mich, ich musste da ganz schnell wieder rausgehen“, sagt sie bei der Führung. „Manche Toten waren so abgemagert, dass man wahrscheinlich mehrere zusammen auf ein Brett legen konnte, um sie zu verbrennen.“

Gedenkstätte statt Disco

Wolfgang Sannwald, in Personalunion auch Kreisarchivar und Honorarprofessor am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, setzt auf eben diese Erfahrungen. Der Erfinder der Tübinger Jugendguides möchte, dass die Jugendlichen darüber sprechen, was sie selbst an den Orten des Grauens erlebt haben. Ihm ist die persönliche Erfahrung und auch die Emotion wichtig. Sie „rüberzubringen“ ist ein eigenes Modul in der Ausbildung. „Wichtig ist, dass sie authentisch sind“, sagt er über die Rolle der Guides. „Das üben wir regelrecht.“

Sie sollen also nicht nur berichten, wie viele Menschen in dem Krematorium verbrannt wurden, sondern wie Nora und Emma auch erzählen, wie es sich anfühlte, dort zu stehen. Nur so können sie das Grauen schildern, das einem solchen Ort auch Jahrzehnte später innewohnt.

Emma Pastink (links) und Simeon von Lorentz sind als Jugendguides tätig.
Emma Pastink (links) und Simeon von Lorentz sind als Jugendguides tätig. | Bild: Brigitte Gisel

Das ist vor allem dann wichtig, wenn es darum geht, Schulklassen für das Thema zu sensibilisieren. Denn nicht immer ist es für die Jugendguides einfach, bei Gleichaltrigen Interesse für das Thema zu wecken. Emma erinnert sich an eine Gruppe Realschüler, die sie in die Gedenkstätte Natzweiler begleitete.

Für gut die Hälfte war die Exkursion ein Pflichtprogramm, sie fanden das Thema dröge. „Das ist schon eine Challenge“, sagt die 16-Jährige. Sie hat es auf ihre eigene Art und Weise gemeistert. „Da gab es Arrestzellen, in denen früher drei Gefangene auf einem Quadratmeter untergebracht waren. Ich habe der Klasse gesagt: Wetten, ihr traut euch da nicht rein?“

Einige haben es gewagt und waren anschließend ziemlich kleinlaut. Wichtig ist es den Jugendguides, ihren Altersgenossen auf Augenhöhe zu begegnen. Auch Emma kennt die Aufregung, vor einer Gruppe fremder Menschen aufzutreten. Aber sie weiß auch: „Wir wissen mehr als die anderen.“

Für die Ausbildung zum Jugendguide investieren die Jugendlichen 40 Stunden ihrer Freizeit. Sie beschäftigen sich mit Geschichte, statt im Park abzuhängen oder in die Disco zu gehen. Alle haben Interesse an Geschichte. Doch es gibt noch andere Gründe. „Verantwortung übernehmen“ nennen mehrere als Motiv, das auf sich zu nehmen. Sie wollen dafür sorgen, dass die Gräuel der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten. „Ich möchte den Opfern Respekt zeigen“, sagt beispielsweise Nora. Und dass sie etwas dazu beitragen will, dass „so etwas nicht noch einmal passiert“.

Wichtiger als Pearl Harbor

Jugendguide Simeon findet es auch wichtig, dass sich mit Geschichte Orte und Namen verbinden. „Ich kann jetzt einen Bezug zu Tübingen herstellen“, sagt der Schüler, der schockiert war zu erfahren, dass auch in der Idylle am Neckar Schreibtischtäter den Holocaust vorangetrieben haben. „Das war für mich wichtiger als ein Bild von Pearl Harbor“, sagt der 16-Jährige.

Hinzu kommt, dass die Jugendguides nur in den seltensten Fällen aus den Familien der Opfer stammen. Manche beginnen nachzufragen, welche Rolle die Generation der eigenen Großväter und Urgroßväter im Krieg gespielt hat.

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Für Sannwald sind solche Gespräche Beleg dafür, dass er damals richtig lag. Lehrer hatten ihn 2010 angesprochen: Die Schüler interessierten sich nicht mehr für die NS-Zeit. Gedenkstätten hatten kaum noch Schulklassen zu Besuch. Gemeinsam mit der Kreisjugendreferentin begann Sannwald das Konzept für außerschulische Erinnerungsarbeit zu entwickeln. Die erste Qualifikation lief über die Jugendhäuser.

Heute ist die Kooperation mit den Schulen eng. „Die Lehrer in der Schule haben Werbung gemacht“, sagt beispielsweise Simeon, dessen Schule nach den Geschwistern Scholl benannt ist. „Die Lehrerinnen und Lehrer sind oft ganz neidisch auf uns“, sagt Wolfgang Sannwald: „Plötzlich erarbeiten sich die Jugendlichen eigenständig Themen, ohne dass sie jemand antreiben muss.“

Fürs Leben lernen

Rund 300 Jugendliche haben in Tübingen seit 2012 die Qualifizierung zum Jugendguide durchlaufen. Träger ist der Verein Kulturgut, dem der Landkreis Tübingen, Kommunen im Kreis und Initiativen sowie Museen angehören.

Wolfgang Sannwald, der Tübinger Kreisarchivar und Erfinder der Jugendguides, hat das Konzept zusammen mit dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften (LUI), dem Kreisjugendreferat und der Geschwister-Scholl-Schule Tübingen entwickelt. Auch das Institut für Erziehungswissenschaften der Tübinger Uni ist beteiligt. In der Projektbeschreibung der Uni heißt es: „Das Projekt transferiert kulturwissenschaftliche Forschung zur Erinnerungskultur, historische Forschung zu NS-Verbrechen vor Ort und erziehungswissenschaftliche Forschung zur Jugendmotivation in gesellschaftliche Wirksamkeit.“

Die Jugendlichen sind meist zwischen 15 und 17 Jahren alt, 20 Prozent sind älter als 18 Jahre. Die Qualifizierung umfasst 40 Stunden, am Anfang steht eine Exkursion ins ehemalige KZ Natzweiler-Struthof im Elsass. Dazu gehören Seminare zu Quellenkunde und Recherche – und nicht zuletzt das Präsentieren. „In dem Alter ist es sehr wichtig, sich gesellschaftlich einzubringen“, sagt der Honorarprofessor am Tübinger LUI. Ziel der Qualifizierung sei es, die Jugendlichen darauf vorzubereiten, öffentlich aufzutreten und dabei „gesellschaftliche Wirksamkeit“ zu erleben.

Jugendguides sind nicht nur ein Projekt der Erinnerungskultur, sondern auch eine Form der offenen Jugendarbeit. Die Guides eignen sich Fähigkeiten an, die sie auch an der Schule oder später an der Uni brauchen können. (gis)