Christopher Rieck

Zu einem Stadtspaziergang mit dem Überlinger Historiker Oswald Burger anlässlich des Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus haben sich knapp 20 Interessierte eingefunden, darunter auch Alt-Oberbürgermeister Reinhard Ebersbach mit seiner Frau und Stadtrat Michael Wilkendorf. Der Gedenktag war 1996 eingeführt und auf den 27. Januar gelegt worden, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.

Neben dem Opfermahnmal des Überlinger Künstlers Werner Gürtner auf dem Friedhof begrüßte Oberbürgermeister Jan Zeitler die Anwesenden. Dabei knüpfte er an die Proklamationsrede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog an, der gemahnt hatte, dass Erinnerung nicht enden dürfe, da sie die Aufgabe habe, möglichen Wiederholungen entgegenzuwirken. Zeitler führte aus: "Gedenken hat in der Vergangenheit stattgefunden, muss aber auch in der Zukunft stattfinden. Es ist die Aufgabe der Stadt, das Gedenken zu erhalten und nun in die Zukunft zu tragen. Der Gedenktag wird dabei weiterentwickelt werden." Der Gemeinderat hatte sich entschlossen, so Zeitler, neben dem Volkstrauertag dem Tag des Gedenkens eine eigene Veranstaltung zu widmen. Auf Initiative Oswald Burgers wurde die Form eines erinnernden Stadtspaziergangs gewählt, in klarer Abgrenzung zu einer herkömmlichen Stadtführung. Für die Anwesenden wurde es trotz des ernsten Hintergrundes ein aufschlussreiches Erleben von Stadtgeschichte, das gelegentlich sogar Raum zum Schmunzeln ließ.

Oswald Burger betonte, dass neben dem Schwerpunkt der politisch und rassisch motiviert Verfolgten des NS-Regimes letztlich auch alle Menschen, die im Kontext des Kriegs ihr Leben lassen mussten, als Opfer des Regimes zu werten sind. Die Liste der die Stadt Überlingen betreffenden Opfer ist lang: vermutlich 258 Gefallene, 85 im Krieg Vermisste, 243 gestorbene Häftlinge des KZ bei Überlingen, 23 umgekommene Kriegsgefangene, 20 Tote des Luftangriffs vom 22. Februar 1945, sieben ermordete Menschen mit Behinderung, vier jüdische Opfer, ein aufgrund seiner Homosexualität Ermordeter und drei Tote beim Einmarsch der Franzosen gegen Kriegsende.

Einige dieser unterschiedlichsten Biografien stellte Oswald Burger vor: so der tragische Fall des Hermann Levinger, der sich in seiner Funktion als Oberamtmann (entspricht dem heutigen Landrat) um die Region sehr verdient gemacht hatte. Obgleich schon früh vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, wurde er nach den Nürnberger Rassegesetzen durch den Tod seiner deutschen Frau wieder zum "Volljuden". Nach der Negierung seiner Leistungen und zahllosen Repressionen des Pensionärs und seiner Tochter, die als Schauspielerin auch am Theater in Konstanz gearbeitet hatte, nahmen die beiden sich das Leben, um einer unmittelbar bevorstehenden Deportation nach Auschwitz zu entgehen.

Besser erging es dem Schuhmachermeister Banschik aus der Aufkircher Straße. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der ursprünglich russische Soldat mit jüdischen Wurzeln in Überlingen niedergelassen. Als Nichtarier durfte er seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl der nationalsozialistische Überlinger Bürgermeister Spreng für ihn Stellung bezog. So schrieb dieser, dass Banschik sich immer anständig verhalten habe, "sein Benehmen ist von dem eines Juden grundverschieden", wie Burger schmunzelnd aus dem Schreiben vorlas. Banschik hatte Glück: Überlinger Bürger versteckten ihn, bis der Krieg vorbei war. Nach dem Einmarsch der Franzosen verlangte er seine in der Greth eingelagerten Werkzeuge zurück und praktizierte seinen Beruf noch lange Jahre.

Ein weiteres Beispiel: Die Familie Levi betrieb ein florierendes Textilhaus in der Münsterstraße. Levi begegnete den Repressionen der Machthaber mit dem Auslegen eines Tapferkeitsordens im Schaufenster, den er im Ersten Weltkrieg erworben hatte, wie auch Erinnerungen an seinen Sohn, der für Deutschland im Krieg gefallen war. Es nutzte nichts: Nachdem die Fensterscheiben des Geschäfts von den Nazis beschmiert und Kunden durch wachehaltende SA-Männer abgeschreckt worden waren, verlor er seine Geschäftsgrundlage. Es gelang der Familie mithilfe des evangelischen Stadtpfarrers, ihre Töchter, von denen eine Jahre später in der Uniform eines GI nach Überlingen zurückkehrte, erst nach England zu schicken und später selber in die USA zu emigrieren.

An sie erinnern, wie auch an die Levingers und den aufgrund seiner Homosexualität ermordeten Franz Klauser, Stolpersteine im Stadtgebiet.

Die Kinder der Familie Levi kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland.
Die Kinder der Familie Levi kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland. | Bild: Christopher Rieck

Plastisch erzählte Oswald Burger auch vom Kriegsende in Überlingen, den dramatischen Stunden der Einnahme durch die Franzosen. Eines der letzten Opfer des Kriegs und damit der nationalsozialistischen Herrschaft in Überlingen war Polizeiwachtmeister Josef Hini, der von den vorrückenden Franzosen aufgrund eines Missverständnisses auf der Münstertreppe erschossen wurde. Die Führung endete im Münster. Dort sind noch heute die Spuren der tragischen Schüsse auf Josef Hini zu sehen, wo in einem Fensterbild die zerschossenen Abschnitte notdürftig geflickt worden sind.

Die Teilnehmer des Stadtspaziergangs blieben nach diesen ungewöhnlichen zwei Stunden mit der Erkenntnis zurück: Die Opfer des Nationalsozialismus haben viele Gesichter. Und: Durch das Aufzeigen realer Personen und Biografien wird das Gedenken zu einer lebendigen Erinnerungskultur.

Gedenkentag

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wird seit 1996 jährlich am 27. Januar begangen. In der Proklamation des Gedenktags am 3. Januar 1996 führte der damalige Bundespräsident Roman Herzog aus: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ Der Tag erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus, zu denen unter anderem Juden, Christen, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle sowie politisch Andersdenkende gehörten. Als Datum wurde jener Tag gewählt, an dem 1945 die Überlebenden des Vernichtungslagers (KZ) Auschwitz-Birkenau von den Soldaten der Roten Armee befreit wurden.