„Wir sind die Versuchskaninchen“, findet Joy aus der vierten Klassenstufe der Wiestorschule. Wie alle Viertklässler in Baden-Württemberg musste sie in Mathe und Deutsch einen Test schreiben, der mitentscheidend sein kann, auf welche weiterführende Schule sie gehen darf. Im Zuge der Bildungsreform ist mit diesem Schuljahr die verbindliche Grundschulempfehlung wieder eingeführt worden.
Heißt: Es entscheiden nicht mehr die Eltern, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen wird, sondern es gibt ein dreistufiges Modell: Die Klassenkonferenz, der neu eingeführte Kompass-Test und eine Prüfung am Gymnasium. Ist es der Elternwille, dass das Kind das Gymnasium besucht, müssen entweder der Kompass-Test oder die Klassenkonferenz eine diesbezügliche Empfehlung abgeben. Fällt beides negativ aus, können Eltern ihre Kinder beim Gymnasium für einen Eingangs-Test anmelden.
Für Grundschüler ist der Test schwierig
In den letzten Jahren entschieden allein die Eltern, auf welche weiterführende Schule ihr Kind gehen wird – auch, wenn die Grundschule eine Empfehlung gab. Diese war aber nicht verbindlich. Im November schrieben nun also alle Viertklässler in Baden-Württemberg besagten Test. Das Ergebnis war denkbar schlecht: Nur sechs Prozent erhielten nach dem Mathetest eine Gymnasial-Empfehlung. Joys Klassenkameradin Anna erklärt das so: „Es waren viele Sachen, die wir in Mathe noch gar nicht hatten. Bei manchen Aufgaben saß ich da und wusste gar nicht, was ich machen soll.“
In Deutsch sei es ähnlich gewesen. Schwierig fand Anna auch, dass der Test sehr streng bewertet wurde: „Wenn man in Deutsch einen Punkt oder in Mathe ein Eurozeichen vergessen hat, gab es schon null Punkte.“

Kein Handlungsspielraum für die Klassenlehrerin
Die strenge Bewertung kritisiert auch die Klassenlehrerin Dorothee Dobler. Sie musste die Tests korrigieren, hatte dabei aber keinen Handlungsspielraum. „Ich hatte ganz genaue Regeln, an die ich mich halten musste. Eine Schülerin hat das Eurozeichen vergessen und ich musste ihr null Punkte geben, obwohl sonst alles richtig war. Das fand ich echt gemein.“ Dobler hat, neben der Pflicht zur strengen Korrektur, noch eine Erklärung für die schlechten Ergebnisse des Mathetests: „Das sind ganz viele Transferaufgaben: Kann ein Kind um die Ecke denken?“ Das sei, wendet Rektor Karl Niedermann ein, „schon auch das Niveau, was auf dem Gymnasium gefragt ist, aber natürlich nicht in der Summe der Aufgaben und nicht so geballt.“
Acht Seiten in 45 Minuten sei sehr viel, vor allem für Transferaufgaben. Besonders Schüler mit Migrationshintergrund hätten es schwer, die Feinheiten in den Textaufgaben zu verstehen – und auf diese Feinheiten komme es bei Mathe tatsächlich stärker an als beim Deutschtest. „Ein kleines Wort kann die Aufgabe umdrehen. Das irritiert die Schüler sehr.“
Das sagt die Elternsprecherin zu den Aufgaben
Auch Yvonne Jekat, Elternsprecherin der 4a, hält es für bedenklich, „dass der Test keinerlei Rücksicht auf bestehende Unterschiede wie zum Beispiel die Anzahl nicht deutschsprachiger Kinder in den Klassen nimmt.“ Sie sagt: „Meiner Ansicht nach sind die Lehrkräfte der Grundschulen die geeigneten Fachleute, um die Empfehlung für den weiteren Schulweg auszusprechen.“ Viertklässlerin Pauline fand den Test hingegen okay: „Ich fand es ganz gut, dass wir die Tests geschrieben haben, weil dann kann man nicht einfach aufs Gymnasium gehen, wenn man gar nicht gut genug ist.“ Und der Test sei ja auch nicht das einzige Kriterium.
Prüfungssituation ist für Kinder ungewohnt
Rektor Niedermann pflichtet Schülerin Anna bei, die beklagt, dass manche Aufgaben abgefragt wurden, die noch nicht unterrichtet wurden: „Der Test wurde ja fast am Anfang des Schuljahres geschrieben. Die Textaufgaben kommen aber nicht unbedingt gleich am Anfang.“ Hinzu kam die Aufregung wegen der ungewohnten Prüfungssituation. Die machte der Viertklässlerin Sara besonders zu schaffen. Sie berichtet, dass der Druck so groß war, dass sie einen Migräne-Anfall bekam und abbrechen musste. „Das war wie ein Kinderabitur“, sagt Dobler. „Das hat man auch gespürt, in der Stimmung in den Klassen“, ergänzt Niedermann. Und was sagt er als Pädagoge zu solch einer Situation? „Druck sollte vermieden werden. Druck erzeugt Gegendruck.“
Seine Kollegin ergänzt: „Man sieht den Druck auch in den Kindergesichtern. Wir haben als Schule versucht, den Druck, soweit wir konnten, herauszunehmen.“ Aber, sagt Niedermann, viel Druck komme auch seitens mancher Eltern.

Manche Eltern setzen ihre Kinder unter Druck
Etliche Kinder hätten Angst, wenn sie mit schlechten Noten nach Hause kommen. Tatsächlich haben schon mehrere Eltern, deren Kinder sowohl beim Kompass-Test als auch hinsichtlich der Schulkonferenz-Empfehlung keine Gymnasial-Empfehlung erhielten, angekündigt, ihre Kinder die Eingangsprüfung am Gymnasium machen zu lassen. Niedermann hält davon nichts, außer, es ist der unbedingte Wille des Kindes: „Die Chance, dass bei dem Test dann was anderes herauskommt, ist gering“, sagt er. „Und dann ist das wirklich nur noch Frust für das Kind und das Gefühl, versagt zu haben.“
Der Rektor weist aber darauf hin, dass es für die Schule auch Vorteile bietet, wenn nicht nur die Einschätzung der Lehrerkonferenz maßgebend ist, sondern externe Verfahren wie Kompass 4 und Potenzialtest. „Damit richten sich eventuelle zukünftige Klagen der Eltern nicht explizit nur gegen die Schule und die einzelnen Lehrkräfte. Vor Jahren, als die Grundschulempfehlung noch verbindlich war, gab es seitens der Eltern teilweise massiven Druck auf die Lehrkräfte.“