Wo sie aufwuchs, war alles flach. In Eystrup bei Hannover standen ein paar Häuser und es gab Wiesen und Kartoffelfelder. Heute schaut Regine Klusmann aus dem Fenster und sieht den Bodensee, den Bodanrück und bei gutem Wetter auch die Alpen. „Das ist ein großes Privileg“, sagt sie.
Das vielleicht schönste Pfarrhaus Deutschlands
Der Grund für den Wohnsitz hat nichts mit Reichtum, Heirat oder Glück bei der Wohnungssuche zu tun. Regine Klusmann ist die Dekanin des Evangelischen Kirchenbezirks Überlingen-Stockach mit Sitz in Überlingen.

Seit 1908 ist das prächtige Gebäude das Pfarrhaus der Evangelischen Kirchengemeinde: direkt an der Seepromenade mit hohen Decken, knarzenden Eichenfußböden und klassizistischen Ornamenten an der Fassade.
Jenseits von Enthaltsamkeit
Das Gebäude liegt direkt an der Seepromenade zwischen Badgarten und Landungsplatz. Obwohl es architektonisch dorthin passt, ist es ein Kontrast: Traditionell sind evangelische Pfarrhäuser eher schlichte Bauten. Je nach Region sind sie Klinkerbauten oder auch mal Fachwerkhäuser.
Die Autorin Christine Eichel bezeichnet das Pfarrhaus in ihrem Buch „Das deutsche Pfarrhaus“ als „Symbol für Kontinuität der Geschichte“ und die „Identität mit der Kulturgemeinschaft“. Wenn das so ist – so könnte man fragen – was sagt das hiesige Pfarrhaus dann über Überlingen aus?
Ihr Kind sagte: „Mama, geil!“
Dass Klusmann und ihr Mann Andreas in diesem Prachtbau wohnen würden, hätten sie sich vor einigen Jahrzehnten nicht vorstellen können. Sie lernten sich beim Theologie-Studium in Heidelberg kennen. Er kam aus Konstanz, sie aus dem hohen Norden. Lange lebten sie mit ihren vier Kindern in Rheinfelden am Hochrhein. Sie war Pfarrerin, er Religionslehrer.
Im Jahr 2012 wurde sie zur Dekanin des Kirchenbezirks Überlingen-Stockach ernannt. Damit verbunden war auch der Einzug in das Pfarrhaus in die Grabenstraße, sagt sie. Ihre Kinder hätten sich hier von Anfang wohlgefühlt. „Mama, geil!“, habe eines ihrer Kinder bei der Besichtigung gerufen, berichtet sie.
Im Erdgeschoss des Hauses befinden sich Gemeindesäle, draußen ein Garten mit Terrasse, Kirschbaum und Bienenstöcken.

Im ersten Stockwerk sind Büros und der Vorzeigeraum des Hauses – das Balkonzimmer. Hier sind die Wände zitronengelb gestrichen und ein Bild von Jesus, Maria und Josef hängt neben der Tür.
Ein Perserteppich liegt auf dem Boden und Stuck ist an der Decke. Neben einem langen Tisch stehen hier drei Stühle mit Gobelin-Stickereien aus dem Nachlass der Familie Birkle.
„Ich habe damals die Beisetzung von Irmgard Birkle gemacht“, erzählt Klusmann. „Die Angehörigen der Familie haben uns später diese Stühle angeboten.“
Balkonzimmer soll „Raum der Begegnung“ sein
Der Raum ist dank großer Fenster sehr hell, von hier lässt sich der Sonnenuntergang inklusive glitzerndem Seewasser exzellent beobachten. Es soll ein „Raum der Begegnung“ sein, sagt die Dekanin. Das Zimmer diene Mitarbeitern und Gemeindemitgliedern sowie Gruppen wie Literaturkreisen oder Trauerkreisen, die sich hier treffen.

Klusmanns Lieblingsplatz ist auf dem Balkon. „Hier trinke ich in einer Pause gern mal einen Kaffee“, sagt sie.
Skaten auf Parkettboden
Eine breite Holztreppe führt ins zweite Stockwerk hinauf zur Dienstwohnung. Hier wohnt die 59-Jährige mit ihrem Mann und zwei Hauskatzen. Von einem breiten Hauptgang gehen mehrere Schlafzimmer, eine Küche, ein Bad und ein Wohnzimmer ab.

Ihre vier Kinder seien mittlerweile ausgezogen, erzählt die Dekanin. Geblieben ist unter anderem ein Mini-Skateboard, das hinter einem alten Ofen steckt, den bereits Klusmann Großvater nutzte.

„Mit dem Skateboard sind meine Kinder hier immer über dem Parkettboden gefahren“, erzählt Klusmann und lacht.
Heimeliges Wohnzimmer
Die Atmosphäre im Wohnzimmer ist heimeliger als im eher formellen Balkonzimmer. Eine Wand ist dunkelrot gestrichen, ein langer Esstisch steht am Fenster und bietet bei Mahlzeiten Seeblick.

Zwei Kronleuchter an der Decke spenden Licht. Diese stamme nicht aus vergangenen Zeiten, sondern vom Flohmarkt, so Klusmann. Sie sei gern auf Märkten und stöbere nach antiken Einrichtungsstücken.
Außerdem verbreiten eine schwarze Ledercouch sowie ein Ohrensessel gemütliche Atmosphäre.
„Jenseits von Gut und Böse“
Die Dekanin vergesse auch nach mehr als zehn Jahren nicht, dass es besonders sei, in diesem Haus zu wohnen. „Wir könnten uns eine solche Wohnung normalerweise nicht leisten“, sagt sie. „Das ist völlig jenseits von Gut und Böse.“
Ganz umsonst ist der Seeblick aber nicht: Ihr Mann und sie zahlten für die Wohnung Miete und Nebenkosten. Die Miete für die 220-Quadratmeter-Dienstwohnung, die sich am Überlinger Mietspiegel orientiert, werde ihr vom Gehalt abgezogen. Nebenkosten müssten sie eigenständig zahlen, Sanierungen übernehme die Gemeinde- oder Landeskirchen-Kasse.
Glück auf Zeit
Klusmann sei sich auch dessen bewusst, dass sie und ihr Mann nicht ewig hier wohnen werden. Bis mindestens 2028 sei sie noch Dekanin, ab 2031 im Ruhestand. Was in den drei Jahren dazwischen passieren werde, stehe noch nicht fest.
Fest stehe aber, dass sie nach ihrer Laufbahn in Owingen wohnen werden. „Dort haben wir uns ein Häuschen gekauft“, erzählt sie. Eine Rückkehr nach Norddeutschland – zurück zu Wiesen und Kartoffelfeldern – sei schon lange nicht mehr denkbar. Sie können sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben als am See. „Einmal am See, immer am See“, sagt Klusmann.