Hauptgänge und Quergänge ziehen sich über mehr als vier Kilometer Länge durch die Finsternis bis zu 60 Meter unter dem Fels. Hier kann leicht jemand verlorengehen, und darum beginnt für Sabine Müller jede Führung unter Tage mit dem Durchzählen ihrer Schäfchen. Bei 97 Teilnehmern stoppt sie an diesem Freitag. Bevor sie gut zwei Stunden später den einzigen Stolleneingang verschließt, wird sie erneut durchzählen. Wieder 97, passt, die eiserne Tür kann ins Schloss fallen. Und wird verschlossen bleiben, bevor in zwei Wochen die nächste Gruppe das Mahnmal besichtigt.

Sabine Müller vor Beginn der Führung.
Sabine Müller vor Beginn der Führung. | Bild: Conrad Schormann

110 sei die höchste Zahl bislang gewesen, berichtet Müller. Schon 97 erscheint sehr viel. Nicht, dass unter Tage nicht genug Platz wäre. Einst schufteten hier bis zu 800 Zwangsarbeiter. Aber heute, 80 Jahre später, wird es eng an den erleuchteten Stationen, an denen Müller Dokumente von damals zeigt und historisch einordnet. Wer hinten steht, sieht nichts und muss warten, bis die Gruppe weiterzieht. Damit niemand zurückbleibt und sich im Dunkeln verirrt, hat Müller zwei junge Männer aus der Gruppe mit einer Extra-Leuchte ausgestattet und als Aufpasser verpflichtet.

Zeppelin, Maybach, Dornier, Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF): Die Rüstungsbetriebe am Bodensee hatten nach dem Ersten Weltkrieg auf zivile Produktion umgestellt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten widmeten sie ihre Kapazität bald wieder der Kriegsproduktion. Und so wurde ab 1943 unter anderem Friedrichshafen eines der bevorzugten Ziele alliierter Bombenangriffe.

„Binnen 100 Tagen die Produktion unter die Erde verlagern“, war 1944 die Maßgabe. Unter die Erde – dafür war der Goldbacher Standort ideal: der weiche Molassefels, die Nähe zu den Betrieben, die Bahnlinie, die sich ebenerdig heranführen ließ, und nicht zuletzt die Nähe zum See, um dort den Aushub verschwinden zu lassen, sodass von oben keine Spuren zu erkennen waren.

Ausbrechen unmöglich. Trotzdem gelang zwei Zwangsarbeitern die Flucht. Sie hatten sich in den letzten Kriegstagen in einer Lore unter ...
Ausbrechen unmöglich. Trotzdem gelang zwei Zwangsarbeitern die Flucht. Sie hatten sich in den letzten Kriegstagen in einer Lore unter Geröll versteckt und mit Diesel übergossen, sodass die Wachhunde der SS sie nicht riechen. Ein weiterer Fluchtversuch scheiterte – und wurde mit dem Tode bestraft. | Bild: Conrad Schormann

Durch die in den See gekippten Felsbrocken entstand im Laufe der Zeit eine künstliche Fläche, neues Land am Seeufer. Heute verbringen Touristen und Einheimische im Naherholungsgebiet Uferpark ihre Freizeit auf den steinernen Hinterlassenschaften dieses schrecklichen Kapitels Stadtgeschichte. Die aus dem Stollen gesprengten Felsbrocken bilden das Fundament des 2021 zur Landesgartenschau eröffneten Parks.

Eine Lore, mit der damals das Gestein aus den Gängen transportiert wurde.
Eine Lore, mit der damals das Gestein aus den Gängen transportiert wurde. | Bild: Conrad Schormann

Obwohl der Aushub im See verschwand, wussten die Alliierten, was hier läuft. Vor einigen Monaten erst seien Luftbilder von damals aufgetaucht, die belegten, dass die Produktionsstätte in Überlingen bekannt war, erklärt Müller. Bomben hätten diese unterirdische Fabrik kaum zerstören können. Sie ging nie in Betrieb, produzierte nichts. Viel mehr als ein paar Werkbänke wurden im Goldbacher Stollen nie aufgebaut.

Einmal täglich eine dünne Suppe

Jeden Morgen Antreten in Viererreihen, bewacht von SS-Leuten und ihren Hunden. Dann der Marsch vom Lager Aufkirch hinab zum See, etwa eineinhalb Kilometer. 12 Stunden Arbeit bei konstant 12 Grad Celsius von 6 bis 18 Uhr. Als Essen einmal täglich eine dünne Suppe. 80 Jahre später lässt das Schniefen und Hüsteln der Besucher, darunter etwa 70 Spätsommertouristen, erahnen, wie es den Zwangsarbeitern 1945 ergangen sein mag. Damals kam neben der harten körperlichen Arbeit die staubige Luft dazu, eine Folge der konstanten Sprengungen im Fels.

Ein Modell des Lagers Aufkirch im Stollen.
Ein Modell des Lagers Aufkirch im Stollen. | Bild: Conrad Schormann

Mehr als 200 Menschen haben hier ihr Leben verloren. Anfangs stellte der Amtsarzt in Konstanz noch Todesscheine aus, später nicht mehr. „Tuberkulose“ und „Allgemeine Schwäche“ sind als Todesursachen dokumentiert, auch: „Verzweiflung“. Die psychische Belastung und die Hoffnungslosigkeit ließen Häftlinge zusammenbrechen und aufgeben.

„Alle haben jetzt einen Namen“

Etwa zwei Drittel der Zwangsarbeiter waren Italiener, politische Häftlinge mehrheitlich, nach dem Sturz Mussolinis Ende Juli 1943 verhaftet und deportiert. Von den Wachen als abtrünnige ehemalige Verbündete gehasst, hatten sie es noch schwerer als die anderen Menschen im Lager. Einige starben auch an den Folgen von Misshandlung. In einem Massengrab im Degenhardter Wald wurden sie verscharrt. Als Folge umfangreicher Recherchen unter anderem des Vereins Dokumentationsstätte sind heute ihre Identitäten bekannt. „Alle haben jetzt einen Namen“, sagt Müller.

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Die damals zerklüfteten unterirdischen Gänge sehen heute überraschend glatt aus. „Spritzbeton“, erklärt Müller. Nachdem 1983 ein Film die Geschichte des Stollens erstmals dokumentiert hatte, ließ das damalige Bundesvermögensamt sie sanieren und stabilisieren. Seitdem beugen auch zusätzlich eingezogene Stahlträger Einstürze vor. Trotzdem, ohne Kopfschutz darf niemand rein. Mehr als 100 gelbe Helme liegen am Eingang für die Besuchergruppen bereit. Alle zwei Jahre wird die Anlage eingehend inspiziert und geprüft, um die Sicherheit und Kontinuität der unterirdischen Gedenkarbeit zu gewährleisten.