Auf den ersten Blick ist Bernd Kaiser ein rüstiger älterer Herr: Gepflegt, mit einem freundlichen Lächeln und einem festen Händedruck. Ein bisschen schwerhörig, aber für einen 73-Jährigen auch nicht außergewöhnlich. Doch der Schein trügt. Bernd Kaiser ist pflegebedürftig und braucht intensive Betreuung – rund um die Uhr.
„Im Prinzip ist genau das auch das Problem“, sagt Gundula Kaiser. „Dass man es ihm nicht ansieht, wie hilflos er ist.“ Sie ist seit 54 Jahren mit ihrem Mann verheiratet. Seit zehn Jahren ist aber nichts mehr so, wie es einmal war. „Wir waren gemeinsam im Fitness-Studio. Das haben wir für unsere Gesundheit früher öfter gemacht. Es war ein schöner Tag“, beginnt Gundula Kaiser ihre Erzählung von dem Tag, an dem sich alles änderte.
„Ich war schon die Treppe hinunter gegangen zu den Waschräumen und wunderte mich, dass Bernd nicht nachkam. Da hörte ich oben schon, wie die Menschen aufgerecht zusammenliefen.“Gundula Kaiser
Bernd Kaiser war zusammengebrochen. Ein Schlaganfall. Der Notarzt musste den damals 63-Jährigen noch vor Ort reanimieren. „Diese Minuten oder Stunden werde ich niemals vergessen“, sagt Gundula Kaiser. Mit dem Rettungshubschrauber wird Bernd Kaiser nach Bad Krozingen gebracht. Doch seinem Herz fehlt nichts. Er fällt ins Koma.
Drei Wochen bangen seine Frau und die ganze Familie um sein Leben. Als er sich zurück ins Leben kämpft, wird immer deutlicher: Der Sauerstoffmangel hat Bernd Kaisers Gehirn stark geschädigt. Der Mann von einst, der geschätzte Techniker, der beruflich weltweit unterwegs war – es wird ihn nicht mehr geben. Und doch:
„Ich habe gefühlt, dass mein Mann merkt, dass ich an seiner Seite um ihn kämpfe.“Gundula Kaiser
Acht Monate bleibt Bernd Kaiser in den Schmiederkliniken in Allensbach. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn wechseln sich ab, um bei ihm sein zu können. Dann kommt er nach Hause, zurück nach Bad Säckingen. Und das Leben des aktiven Ehepaares ändert sich komplett.
„Bernd kann nicht alleine bleiben. Es ist schon schwierig für mich, nur kurz in den Keller zu gehen.“Gundula Kaiser
Bernd Kaiser fällt es schwer sich zu orientieren. In der Wohnung geht es, draußen ist er hilflos. Ihr Mann fordert sie rund um die Uhr. „Natürlich ist es anstrengend, wenn man nachts aufstehen muss. Ich musste auch lernen, dass er ganz feste Routinen braucht. Das Essen darf keine Minute zu spät bereitstehen. Dann wird er ungeduldig und etwas unwirsch.“ Hat der Besuch angekündigt, dass er nur bis 20 Uhr bleibt, öffnet Bernd Kaiser Schlag acht die Haustür mit den Worten: „Ihr wollt jetzt gehen, ich hole euch schon mal den Aufzug“, schildert seine Ehefrau.
„Er meint das nicht böse, aber er versteht so vieles nicht mehr.“Gundula Kaiser
Nachts muss die Haustür abgesperrt sein. Zu groß ist das Risiko, dass Bernd Kaiser die Wohnung verlässt. Hilfe bei Alltagsdingen von der Körperhygiene bis zur Einnahme der Mahlzeiten – „Natürlich unterstütze ich meinen Mann. Das ist gar keine Frage“, sagt Gundula Kaiser.
Vom Balkon der gemeinsamen Wohnung aus hat Bernd Kaiser einen guten Blick auf die Stadt und die Bahngleise „Hier sitzt er gerne und zählt die Züge“, sagt seine Frau. „Links fahren die Züge aus Basel. Das sind die Auswärtigen“, sagt Bernd Kaiser und nickt mehrmals.
„In der Zeit ist er beschäftigt und ich kann mich dann um den Haushalt kümmern.“Gundula Kaiser
Sie lässt den Blick durch die gemütlich eingerichtete und liebevoll dekorierte Wohnung gleiten: „Noch kann ich alles selbst machen und bin nicht auf Hilfe angewiesen.“ Gundula Kaiser ist eine starke Frau. Eine, die sich nicht unterkriegen lässt, die versucht, das beste aus der Situation zu machen.
Um so wichtiger sind die wenigen Stunden, die sie für sich hat. Zweimal die Woche besucht Bernd Kaiser die Tagespflege der Awo in Bad Säckingen. Von 8.30 bis 15.30 Uhr ist er dort. Ein Fahrdienst holt ihn ab und bringt ihn wieder nach Hause.

Bernd Kaiser ist gerne dort. „Wir unterhalten uns und spielen auch mal was“, sagt er. Daneben gibt es Angebote wir Bastelarbeiten, die die Motorik fördern.
„Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Aber ich brauche diese Zeit einfach für mich.“Gundula Kaiser
Wer sich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche nur um die Bedürfnisse eines anderen kümmert, muss zwischendurch Luft holen dürfen. „Dieses Jahr war ich zur Kur in Baden-Baden“, erzählt Gundula Kaiser. Ja, es schwingt etwas Freude mit, aber auch die Sorge um ihren Mann. Er bekam in dieser Zeit einen Kurzzeitpflegeplatz. Die Kinder sahen nach ihm, die Schwiegertochter, die selbst in der Pflege arbeitet, hatte ein wachsames Auge auf ihn. „Die Unterstützung meiner Familie tut gut. Ich weiß nicht, ob ich alles ganz alleine schaffen würde.“

So viel Normalität wie möglich, die guten Momente der aktuellen Situation auskosten, das Beste daraus machen. Das ist es, was das Leben der beiden ausmacht.
„In guten wie in schlechten Zeiten, das haben wir uns damals versprochen.“Gundula Kaiser
Gundula Kaiser blickt ihren Mann an. „Links fahren die Züge aus Basel. Das sind die Auswärtigen“, sagt er und nickt. Dann fängt er den Blick seiner Ehefrau auf. Ob er die Tragweite ihrer Äußerung versteht? Schwierig zu beurteilen. Aber seine Gesichtszüge werden weich. Bernd Kaiser lächelt. Gundula Kaiser drückt seine Hand: „Solange es geht, werden wir unser Leben so weiter führen.“