Es ist der 23. September 1940. Die gerade mal 29 Jahre alte Creszentia Blatter, genannt Cresenz, ist in einem merkwürdig umgebauten Postauto von Emmendingen in Richtung unbekannt unterwegs. Mühsam quält sich das Fahrzeug der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (GeKraT) einen Berg hinauf. Oben angekommen steht das ehemalige Jagdschloss Grafeneck mit ein paar umliegenden Gebäuden. Die junge Frau befindet sich auf der Schwäbischen Alb.

Kaum aus dem Bus gestiegen, werden Cresenz und die anderen so genannten Kranken zur ärztlichen Untersuchung geschickt. Sie werden ihrer Kleidung entledigt, gemessen, gewogen, fotografiert und oberflächlich von einem Arzt untersucht. Diejenigen, die Goldzähne besitzen, werden besonders gekennzeichnet. Danach werden die Ankömmlinge in ein Gebäude geführt, in welchem sich ein Wartezimmer für etwa 50 Personen befindet. An der Wand hängt ein Bild von Adolf Hitler.
Nach einer gewissen Zeit wird Creszentia zum Gang in den nebenliegenden Duschraum aufgefordert. Statt Wasser wird jedoch von einem Arzt tödliches Kohlenstoffmonoxid-Gas durch die Brausen eingeleitet. Die Türe wird erst wieder geöffnet, nachdem von den Eingesperrten kein Lebenszeichen mehr zu vernehmen ist. Nun werden die leblosen Körper zu den fahrbaren Krematoriumsöfen direkt neben dem Vergasungsgebäude gebracht und verbrannt.
Aber warum?
Aus welchem Grund erfährt Creszentia Blatter dieses Schicksal? Was hat sie verbrochen? Doch der Reihe nach.
Als jüngstes von 13 Kindern wird sie 1911 in Birkendorf im Südschwarzwald geboren. In ihrem Umfeld gilt das Mädchen als seltsam und schwierig, hört sie doch Stimmen, wo gar keine sind. Besonders ihrem älteren Bruder Leopold ist das Nesthäkchen trotzdem sehr ans Herz gewachsen.
Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung soll sie im Sommer 1940 abgeholt und in die psychiatrische Heilanstalt Emmendingen fortgebracht werden. Davor hat die junge Frau wohl große Angst und versteckt sich auf dem Dachboden ihres Elternhauses, ihre beiden Neffen finden sie dort jedoch. Nun steht der Zwangseinlieferung von Creszentia nichts mehr im Wege.
Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wer die Abholung der Frau veranlasst hat, in der Regel sind es die Kreisbehörden, manchmal sogar Familienangehörige. Entweder kommen Patienten auf direktem Wege in Heil- und Pflegeanstalten oder indirekt durch die Überweisung eines Hausarztes oder eines Krankenhauses.
Undurchsichtige Angaben
Die Ärzte in den psychiatrischen Heilanstalten sind von der Reichskanzlei des Führers in Berlin, getarnt als Zentraldienststelle Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, angehalten, über stationierte Patienten, die an bestimmten Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie oder Schwachsinn leiden, Auskunft zu geben. Die Meldebögen sind so erstellt, dass für Ärzte und selbst für die Anstaltsleiter nicht ersichtlich ist, was hintergründig mit den Angaben bezweckt werden soll.
In diesen Bögen müssen Krankenbefund, Dauer des Anstaltsaufenthaltes, Staats- und Rassenzugehörigkeit sowie etwaige Besuche durch Angehörige, etc. festgehalten werden. Sollen eventuell körperlich leistungsfähige Patienten in irgendeiner Form für den nun seit einem Jahr stattfindenden Zweiten Weltkrieg eingesetzt werden?
Geht es also um Arbeits- oder gar Fronteinsätze? So mancher Arzt ahnt Schlimmes beim Ausfüllen des Meldebogens und versucht durch negative Übertreibung des Krankheitsbildes, den Patienten vor dem Kriegseinsatz zu bewahren. Doch damit ist den Betroffenen ganz und gar nicht geholfen.
Alle ausgefüllten Meldebögen werden an die Zentrale in Berlin gesendet. Intern wird dem ganzen Unternehmen der Tarnname „T 4“ gegeben, in Anlehnung an die Tiergartenstraße 4, wo sich die Zentraldienststelle in Berlin befindet. Und in eben dieser „Tötungsbehörde“ wird reichsweit die Beseitigung „unwerten Lebens“ organisiert.
Dort werden die Meldebögen ärztlichen Gutachtern zur Bewertung weitergeleitet. Basierend auf den Angaben wird im Schnellverfahren entschieden, ob Patienten am „Leben gelassen“ oder „euthanasiert“ werden sollen, ohne dass die Gutachter (Beiname: Kreuzelschreiber) diese jemals zu Gesicht bekommen haben.
Entscheidung über Leben und Tod
Diese Entscheidung über Leben und Tod wird ausschließlich auf Grundlage des Meldebogens getroffen und durch das Setzen eines blauen Minus- oder roten Pluszeichens dort notiert. Einer der beiden Obergutachter, entweder Dr. Werner Heyde oder Prof. Dr. Paul Nitsche, signiert in einem zweiten Durchlauf endgültig mit „-“ oder „+“ (Todeskreuz).
Ziel der Aussortierung „lebensunwerten Lebens“ ist es, den unproduktiv oder störend gewordenen Menschen das Lebensrecht zu verwirken und die nationalsozialistische „Rassenhygiene“, ein internationales Phänomen der Eugenik aus dem 19. Jahrhundert, in allerletzter Konsequenz durchzusetzen. Außerdem geht es darum, die staatlichen Kosten einzusparen, welche diese Mitbürger als „unnütze Lebensmittelkarten-Empfänger“ verursachen.
Die systematische Tötung von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen, mitunter auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen wird mit dem Auftrag Hitlers zeitgenau auf den Kriegsbeginn zum 01.09.1939 zurückdatiert: „[...] wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut und der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt.“
Auf perfide Weise nutzen die Nationalsozialisten diese Mordaktion, um zu erfahren, wie weit sie bei der Bevölkerung im Deutschen Reich gehen können, schließlich werden Menschen aus dem eigenen Volk und der eigenen „Rasse“ umgebracht.
Cresenz Blatter geht an diesem 23. September 1940 also noch vielen Folgenden voraus. Sie wird von der Einrichtung Emmendingen in die Tötungsanstalt nach Grafeneck verlegt. Das Verlegungsdatum entspricht in diesem Zusammenhang so gut wie immer dem Todesdatum. Die Transportbusse sind grau umlackierte Postautos mit kalkverschmierten und verhängten Scheiben, da der Abtransport vor den Augen der Bevölkerung geheim gehalten werden soll. Doch es gibt Gerüchte und Vermutungen, dass da Unmenschliches geschieht.
Nicht wenige Pfleger von Heilanstalten sollen bei der Verabschiedung ihrer Patienten Tränen in den Augen gehabt haben. Für Cresenz ist mit dem Betreten von Grafeneck das Todesurteil gesprochen. Weiträumig ist das Gelände mit einem hohen Zaun von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Schilder mit der Aufschrift „Landespflegeanstalt Grafeneck“ verbieten den Zugang wegen „Seuchengefahr“ – Geheimhaltung und Vertuschung überall.
Was Angehörige erfahren
Die Angehörigen in Birkendorf bekommen Tage später die Todesmitteilung vom Ortsbürgermeister höchstpersönlich übermittelt. Die Mutter von Creszentia sagt ihm ins Gesicht: „Jetzt haben sie sie umgebracht!“ Auch Cresenzs Bruder Leopold ist wohl von Anfang an überzeugt, dass seine Schwester ermordet wurde.
Oft werden die Angehörigen aber auch nur durch eine schriftliche Mitteilung, den sogenannten Trostbrief, über das Ableben ihres Familienmitglieds informiert. Das vermeintliche Todesdatum, bei Cresenz der 13. Oktober 1940, und die Todesursache sind dabei frei erfunden. Oft lautet die Todesursache standardmäßig „Lungenentzündung“. So auch die Diagnose auf der Sterbeurkunde von Creszentia Blatter.
Um Nachforschungen durch die Angehörigen jede mögliche Grundlage zu entziehen, werden die Leichname aus vorgeschobenen „seuchenhygienischen Gründen“ verbrannt. Der trauernden Familie Blatter wird angeboten, die Asche für fünf Reichsmark käuflich zu erwerben. Wohlwissend, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, verzichtet sie darauf.
Im August 1940 wurde die Belegschaft der Tötungsanstalt Grafeneck noch zu einer Feierstunde eingeladen. Die Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Putzpersonal, Hausmeister bekommen „aus besonderem Anlass“ eine Flasche Bier spendiert. Danach geht es in den Keller, wo man angesichts eines aufgebahrten toten Anstaltsinsassen die Verbrennung der zehntausendsten Leiche „feiert“.