Es herrschte vielfach Panik. Am 25. April 1945 zog gegen 9 Uhr morgens ein Verband der 3. französischen Kampftruppe mit Panzern in Öflingen ein. Die Zeitzeugin Gertrud Schmidt berichtet, dass „die Frauen aus Angst ihr Hab und Gut zusammenpackten und hinauf in den Wald rannten“.
Die meisten begriffen die Franzosen nicht als Befreier, sondern als rachedurstige Besatzer. Im Gegensatz dazu wurde im Arbeitslager in Brennet gejubelt. Hier mussten 25 Zwangsarbeiterinnen aus Russland und 25 Zwangsarbeiter aus den Niederlanden Pilotencockpits für Jagdflugzeuge fertigen. Auch Öflinger waren hier beschäftigt. Die Firma Hermes verdiente viel Geld mit der Rüstung. Doch damit war Schluss. Der 25. April 1945 brachte für 50 junge Frauen und Männer die lang ersehnte Freiheit.
Dramatische Geschichte mit Happy End
80 Jahre später steht der selbstständige Unternehmensberater Alex Janssen aus Apeldoorn in den Niederlanden mit seinem Freund Manfred Turbeis aus Öflingen genau an jener Stelle in Brennet, wo einst die Baracken der Firma Hermes standen. Wenn Alex von seinen Eltern erzählt, spürt man, wie sehr ihn ihr Schicksal am Ort des Geschehens bewegt. Ihre Geschichte begann tragisch und endete buchstäblich in letzter Sekunde mit einem Happy End.

Alex Janssens Vater Geurt war 20 Jahre alt, als er zur Arbeit in Deutschland gezwungen wurde. Am 2. September 1943 passierte er die Grenze. Am 15. Oktober begann er in einem Wuppertaler Rüstungsbetrieb. Dann wurde er an den Hochrhein verlegt. Dort ging für ihn am Dienstag, 7. Dezember 1943, in der Rüstungsfirma Hermes die Zwangsarbeit weiter.
Nachdem die deutschen Truppen am 6. Oktober 1941 Brjansk in Russland besetzt hatten, war die 17 Jahre alte Anastasia Trikowa mit ihrem Vater und einem Bruder zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden. Wann sie – ohne Vater und Bruder – nach Brennet kam, ist nicht bekannt. Sie zählte zu jenen 25 Russinnen, die Zwangsarbeit für die Firma Hermes leisten mussten.

Anastasia und eurtt lernen sich bei der Zwangsarbeit kennen
Die jungen Niederländer und Russinnen lernten sich bei der Arbeit kennen und einige auch lieben. Geurt Janssen fühlte sich von Anastasia angezogen, sein Freund Lourens Vermeulen von Pascha. Nach der Befreiung galten sie als „Displaced Persons“. Sie wohnten in einem Übergangslager. Wo genau es lag, weiß Alex Janssen nicht. Es muss aber ein Ort mit Bahnstation gewesen sein.
Mitte Mai erfolgte die Rückreise. Pascha wollte mit Lourens in die Niederlande und stieg zu ihm in den Zug. Anastasia war in Sorge um ihre Familie und entschloss sich schweren Herzens zur Rückkehr nach Brjansk. Geurt nahm sie noch einmal in den Arm und stieg zu Lourens und Pascha in den Waggon. Als der Zug nach Russland gerade abfuhr, rief Lourens Vermeulen: „Geurt, schau! Dort steht Anastasia. Sie fährt doch mit uns.“
Das war der Augenblick, an dem die tragisch begonnene Geschichte zweier Zwangsarbeiter eine Wendung ins Glück nahm. Am 21. Mai 1945 kamen Geurt und Anastasia in Apeldoorn an. Wenig später heirateten sie und gründeten eine Familie mit vier Kindern, darunter Alex Janssen.

Der Kontakt zu Öflingen brach nicht ab. Wieso? Hans Loritz hat vor 14 Jahren die Geschichte des Öflinger Bauarbeiters Willi Keser öffentlich gemacht. Ein Lichtblick in der Finsternis der Nazi-Diktatur. Weil ihn die Situation der jungen Zwangsarbeiter bei Hermes tief anrührte, organisierte Keser für sie an den Heiligabenden 1943 und 1944 Gastplätze in Öflinger Familien.
Dort erlebten sie an den Tischen der Einheimischen ein paar Stunden weihnachtliche Geborgenheit. Das war aber brandgefährlich. Wäre Keser denunziert worden, wäre er ins Zuchthaus oder KZ gekommen. Aber niemand verriet ihn.
Anastasia und Geurt feiern beim Ehepaar Turbeis Weihnachten
Eine dieser Familien war das Ehepaar Karl und Hildegard Turbeis im Wasen. Bei ihnen feierten Geurt und Anastasia sowie Lourens und Pascha das Weihnachtsfest. Sie kannten sich. Auch Hildegard musste bei Hermes arbeiten und war in Sorge um die russischen Frauen. Sie ging das große Risiko ein und brachte ihnen immer wieder etwas Abgezweigtes aus der eigenen knappen Speisekammer mit.
1956 standen plötzlich zwei Motorräder aus den Niederlanden vor dem Haus. Die Ehepaare Janssen und Vermeulen hatten sich auf den weiten Weg gemacht, um ihre Gastfamilie Turbeis zu besuchen. Der damals siebenjährige Manfred Turbeis erinnert sich noch heute an diesen Tag, als wäre er gestern gewesen. Denn Lourens und Pascha hatten ihren Sohn Cor mitgebracht. Über ihn kam jetzt erneut der Kontakt zwischen den Familien zustande.
Anastasia findet eine neue Heimat
Anastasia musste ihre spontane Entscheidung am Bahnsteig nie bereuen. Ihr Vater und Bruder wurden nach der Rückkehr nach Sibirien deportiert. Trotz des Leids der Zwangsarbeit wurden sie von den Sowjets wie Kollaborateure behandelt. Anastasia fand hingegen in den Niederlanden eine neue und sichere Heimat. 1971 besuchte sie mit ihrem Ehemann Geurt die Mutter in Brjansk. So viele Jahre hatte sie auf ihre Tochter gewartet und durchgehalten. Sie starb wenige Monate später.
Die ganze Geschichte des mutigen Willi Keser kann hier nicht erzählt werden. Sie zeigt, dass es in der finsteren Nazi-Zeit auch in Öflingen menschliche Lichtblicke gab. Der am 12. Oktober 1967 verstorbenen Willi Keser konnte auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Wie der junge Bauarbeiter nach den Septemberunruhen 1923 wegen Landfriedensbruch angeklagt und trotzdem freigesprochen wurde, soll ein andermal erzählt werden.