„Es war immer so eine gewisse Traurigkeit bei uns im Haus“, sagt Irene Honegg-Mülhaupt. Ein dunkler Schatten hatte sich auf die Familie gelegt. Ein Schatten von jemandem, der nicht mehr da war. Der fehlte. Den man herausgerissen hat. Sie sagt auch: „Aber wie kann man etwas vermissen, was man nie kennengelernt hat.“ Sie hat nie kennengelernt, wie das ist, einen Vater zu haben.
Irene Honegg-Mülhaupt und ihre Schwester Ria sind heute 82 und 84 Jahre alt. Als ihr Vater starb, waren sie anderthalb und vier. Eugen Mülhaupt, so hieß er, ist am 25. Juli 1944 hingerichtet worden, enthauptet mit der Guillotine. War er Widerstandskämpfer, so wie die vom 20. Juli? Nein, er war ein Waldshuter Metzgermeister. 700 Zentner Fleisch, also 35 Tonnen, soll er zwischen 1940 und 1943 „der deutschen Kriegswirtschaft entzogen“ haben – durch Manipulationen beim Wiegen an der Schlachthof-Waage und durch das Schwarzschlachten von Vieh.
Mülhaupt hatte im April 1944 vor einem in Waldshut tagenden NS-Sondergericht gestanden. Vorsitzender Richter war Oskar Schmoll, der als „Blutrichter von Baden“ berüchtigt war. Vermutlich hätten sie ihn auch nur schon wegen 300 oder 500 Zentnern zur Guillotine geschleppt. Beweise brauchte es keine. Was allein zählte, war Mülhaupt moralisch zu vernichten, als „Kriegsschieber“, als „Parasit“, als „Volksschädling“. Mit der Konsequenz, dass das Urteil auf die Todesstrafe hinauslaufen musste, auch zur „Abschreckung“.

Rechtsstaaten gehen von der Unschuldsvermutung des Angeklagten aus. Für die Nazis stand die „Schuld“ Mülhaupts von vornherein fest. Ein pseudorechtsstaatliches Verfahren diente lediglich dazu, sie zu „beweisen“. Gegen das Urteil des Sondergerichts gab es keine Berufungsmöglichkeit.
Warnung vor der Urteilslektüre
Es war 1994, dass die Familie von diesem Urteil erstmals Kenntnis nahm. Es hatte die Jahrzehnte im Staatsarchiv Freiburg überdauert. Inzwischen ist es samt allen Untersuchungsakten digitalisiert und online frei zugänglich. Ein Freiburger Jurist recherchierte damals den Fall. Dieser sagte zu Irene Honegg-Mülhaupt: „Ich rate Ihnen dringend davon ab, das Urteil zu lesen.“ Er wollte ihr die darin enthaltene Niedertracht, Schmähung und Boshaftigkeit gegen den Vater ersparen. Sie hatte ja, obwohl sie ihn nicht kannte, ein ganz anderes Bild von ihm: herzensguter Mensch, tüchtiger Unternehmer, bester Metzger der Stadt. So ist es ihr erzählt worden – von Mutter Amalie, von Karl und Anna, den Großeltern, und von Emma Poser, der Tante.

Aber viel erzählt worden über den Vater ist ohnehin nie. Er war tot. Und was ihm passiert ist, wurde totgeschwiegen – im knappen Jahr zwischen der Hinrichtung und der Befreiung durch die Alliierten 1945 wie auch in den Jahrzehnten danach, aus Furcht und später aus Scham. Denn es blieb ja immer etwas hängen und auch ein Opfer des NS-Unrechtsstaats war nach 1945 nicht automatisch rehabilitiert. Die Denke: Wegen nichts wird ja niemand hingerichtet.
Schwur am Totenbett 1950
Den Verurteilten zu rehabilitieren, ihn vom Schmähurteil reinzuwaschen, das Verfahren neu aufzurollen, hätten die Hinterbliebenen nach 1945 vorantreiben müssen. „Eugens drei Geschwister haben es gewollt“, erzählt Irene Honegg-Mülhaupt. Aber die Mutter sei dagegen gewesen. Auf ihrem Totenbett Ende 1950 hätten sie ihr schwören müssen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Auch wenn das für die die Hinterbliebenen hieß, mittellos dazustehen, ohne Witwen- und Waisenrente. Die junge Familie war 1944 ins Elternhaus der Mutter in Erzingen zurückgegangen.

„Wir waren arm wie die Kirchenmäuse“, sagt die jüngere Tochter. Mutter Amalie ging nach Schaffhausen in die Fabrik, um für Einkommen zu sorgen. Dabei war auch sie in die Fänge des NS-Regimes geraten und in der Sache ebenso wie ihr Mann im Gefängnis. Aber auch aus ihr hätten die Nazis nichts herausbekommen. „Die ganze Familie hat dichtgehalten“, sagt Irene Honegg-Mülhaupt. Niemand habe die wahren Nutznießer der Gewichtsmanipulationen durch Eugen Mülhaupt, die es gab, preisgegeben, sagt sie. Denn andernfalls, das weiß sie sicher, hätte das die ganze Familie nicht überlebt und womöglich noch viele weitere Opfer gefordert.
So bleibt es beim Bild, dass das Sondergericht von Mülhaupt zeichnete. Ein ehrgeiziger, skrupelloser und habgieriger Geschäftemacher sei er gewesen. Der Tenor: Die „Volksgemeinschaft“ ringt um den „Endsieg“ und er ist nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Statt sie mit Fleisch zu versorgen, verkauft es lieber illegal. Um daraus den Profit zu erlösen zum Aufbau einer eigenen Wurst- und Fleischfabrik. Die Pläne dafür gab es wirklich. In Grießen hätte sie entstehen sollen.

Den Umsatz des Waldshuter Betriebes trotz Krieg verdreifacht, 20 Angestellte beschäftigt und im Besitz eines eigenen „Kraftwagens“, einem Daimler-Benz, mit dem die Familie Ausfahrten unternahm. „Sehr großzügig“ war laut Urteil Mülhaupts Auftreten in Waldshut während des Krieges. Bernhard Porten, der Hotelier aus Höchenschwand, war sein Freund. Mit ihm ging er gemeinsam jagen.
Das weckte Neider, die ihn denunzierten – zwei Waldshuter Metzger. Vermutlich war ihnen die Tragweite ihrer Tat nicht bewusst. Dass sie dem Berufskollegen tatsächlich das Leben kosten würde. Zuchthaus ja, aber doch nicht die Guillotine. Mülhaupt war ja selbst NSDAP-Mitglied, schon seit 1933. Dem passiert schon nicht viel. So dürften sie gedacht haben.

Einflussreiche Günstlinge
Sie hatten sich mit ihrer Anzeige vom Mai 1943 eigens nach Freiburg bemüht. Denn zu Hause in Waldshut hatte ja Mülhaupt angeblich alle unter Kontrolle. Die Anklage baute ihm zu einem Menschen auf, dem es als Kopf einer Bande von drei Mitangeklagten gelungen sei, „fast die ganze Verwaltung einer kleinen Kreisstadt zu korrumpieren“. Alles, was seinerzeit in Waldshut „Ansehen und Stellung“ hatte, soll zu seinen Günstlingen gehört haben. Mit Einladungen zum Essen und Fleischpaketen habe er sie bestochen.

Die Liste seiner vom Gericht namentlich aufgeführten Kundinnen und Kunden liest sich wie ein Who is Who der damaligen Waldshuter Gesellschaft – Spitzenpersonal von Bahn, Zoll, Behörden, Krankenhaus, Großunternehmen und Partei. Auch der Schriftleiter des Alb-Boten soll dazugehört haben. Sind sie in die Metzgerei gekommen, habe sie immer der Chef oder dessen Frau persönlich bedient, sagten Zeuginnen und Zeugen angeblich aus.
Der Angeklagte hat damit laut Anklage einen „palisadenartigen Schutzwall aufgebaut, hinter dessen Deckung er unbesorgt seine dunklen Geschäfte zur Erreichung seines hochfliegenden Planes auszuführen gedachte“.
Womöglich wollte er aber einfach nur dazugehören zur „High Society“. Vielleicht hat er nur aus Gutmütigkeit gehandelt. Oder um etwas zu decken, was alles andere als eigennützig war, ja geradezu humanitär. Das abgezweigte Fleisch sei zum größten Teil nämlich in umliegende Zwangsarbeiterlager gelangt, um die dort schuftenden und unterernährten Insassen am Leben zu erhalten. Davon ist die Familie überzeugt. Wäre es so gewesen, wäre Mülhaupt ja doch eine Art Widerstandskämpfer gewesen – er, der Metzgermeister aus Waldshut, der mit 32 Jahren hat sterben müssen.