Jens Ostrowksi

Dieser Brief ist eine kleine Sensation. „Näher kommt man an das, was meinen Großonkel auf der Titanic zugestoßen ist, wohl nicht heran“, sagt Mario Zimmermann. Die Familie wohnt noch immer in dem Haus, von wo aus Leo Zimmermann im April 1912 aufgebrochen ist, um für ein besseres Leben nach Kanada auszuwandern: in Todtmoos.

Leo Zimmermann aus Todtmoos war begeisterter Musiker.
Leo Zimmermann aus Todtmoos war begeisterter Musiker. | Bild: Musikverein Todtmoos

Vater und Geschwister hatten damals zusammengelegt, damit der 29-jährige Schlosser zu seinem älteren Bruder reisen konnte, der bereits ein Jahr zuvor nach Kanada gegangen war. Das Leben im Heimatdorf war beschwerlich. Die Landwirtschaft brachte wenig Ertrag, und die Infrastruktur befand sich gerade erst im Aufbau. Elektrisches Licht hatten nur wenige Häuser, Postkutschen verbanden Todtmoos mit anderen Ortschaften und wurden erst Mitte 1912 von einem Omnibus abgelöst.

Das Buch „Die Titanic war ihr Schicksal“ erzählt zum ersten Mal ausführlich die Geschichten der 22 deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder. Und es fördert auch neue Fakten zu dem Dritte-Klasse-Passagier aus dem Schwarzwald zutage. Darunter eindrückliche Informationen aus einem Brief, der in vollständiger Länge bislang unveröffentlicht blieb, für das Buch aber ausgewertet werden konnte. Geschrieben hat ihn nach dem Untergang Anton Kink aus Zürich, der mit seiner Familie und seinen beiden Geschwistern auf dem Weg nach Amerika war. Kink war auf der Titanic nicht nur Kabinengenosse von Leo Zimmermann, sie gehörten im April 1912 auch von Basel bis nach Southampton zur gleichen Reisegruppe.

Anton Kink aus Zürich war mit seiner Familie und seinen beiden Geschwistern auf dem Weg nach Amerika.
Anton Kink aus Zürich war mit seiner Familie und seinen beiden Geschwistern auf dem Weg nach Amerika. | Bild: Sammlung Günter Bäbler

„Adressiert war der Brief an die Auswanderer Agentur Kaiser & Cie in Basel“, sagt der Schweizer Titanic-Historiker Günter Bäbler. Darin berichtet Kink von Unannehmlichkeiten während der Reise nach Southampton. Es geht um lange Wartezeiten im Zug und schlechte Mahlzeiten, aber eben vor allem um seine Erlebnisse während der Reise und beim Untergang. „Wir können davon ausgehen, dass vieles von dem, was in dem Brief geschildert wird, ebenso auf Leo Zimmermann zutrifft“, sagt Bäbler, der seit Jahrzehnten zu den Schweizer Passagieren forscht und vor rund zwölf Jahren zum ersten Mal von diesem Brief hörte. Der Treuhänder eines Nachfolge-Unternehmens hatte das Schreiben samt Kuvert bei der Auflösung des Kaiser-Archivs entdeckt und Kontakt mit dem Historiker aufgenommen. Dass der 20-seitige Brief so wie viele andere Dokumente nicht entsorgt wurde, gleicht einem Wunder. Für die Titanic-Geschichte hat er einen unschätzbaren Wert. „Er gibt unter anderem detaillierten Einblick, unter welchen Umständen die Menschen reisten, und was an Bord der Titanic geschah.“

Kink berichtet, wie ein Schiff die Gruppe von Le Havre nach Southampton über den Ärmelkanal befördert hatte, zusammengepfercht in einer Großraumkabine mit 40 oder mehr Betten, in der viele Passagiere seekrank wurden, was sich am nächsten Morgen auf dem Fußboden des Schlafsaals bemerkbar machte. Erst auf der Titanic habe sich die Familie wohl gefühlt, mit gutem Essen und bequemen Kabinen.

Auf der Titanic wurde die Reisegruppe nach Geschlechtern getrennt untergebracht. Leo Zimmermann, Anton Kink und dessen Brüder wurden mit zwei weiteren Männern in der Sechs-Bett-Kabine E-58 im vorderen Teil des Schiffes untergebracht.

Die Titanic beim Auslaufen in Southhampton am 10. April 1912, Postkarte.
Die Titanic beim Auslaufen in Southhampton am 10. April 1912, Postkarte. | Bild: Sammlung Günter Bäbler

Wie die Männer die Kollision erlebten, schildert Kink ausführlich:

„Am Sonntag abends gingen wir ohne etwas Gefährliches zu ahnen gemütlich zu Bett, und wir haben gut geschlafen als um 11.45 Uhr ein furchtbarer Stoß & Getöse uns aus dem Schlaf weckte, in diesem Augenblick war das ganze Schiff lebig. Mein erstes war auf die Uhr zu sehen, es war 11.45 Uhr. Teilweise angekleidet und hinauf, auf Deck vom vorderen Schiff sah hier sehr viel Eis, sah auch wie der Dampf ausgelassen wurde und fragte, was geschehen war, es wurde mir gesagt, dass die Titanic auf einem Eisberg gefahren ist, sei aber keine Gefahr vorhanden, ich sollte mich beruhigen und in die Kabine zurückgehen. Dies wurde mir von mehreren gesagt und auch betont „Die Titanic kann gar nicht sinken“.

Anton Kink war Kabinengenosse von Leo Zimmermann aus Todtmoos und schreibt in einem Brief über die Reise mit der Titanic bis zum Untergang.
Anton Kink war Kabinengenosse von Leo Zimmermann aus Todtmoos und schreibt in einem Brief über die Reise mit der Titanic bis zum Untergang. | Bild: Sammlung Günter Bäbler

Wie beschwerlich selbst für eine Familie mit Baby aus der Dritten Klasse der Weg zu einem Rettungsboot war, beschreibt Kink ebenfalls. Die Familie kämpfte sich durch ein überfülltes Wirrwarr von Gängen und Treppenhäusern, um überhaupt auf das Bootsdeck zu gelangen. Endlich dort angekommen durften zwar Frau und Kind in ein Boot steigen, ein Besatzungsmitglied stieß dem Vater jedoch die geballte Faust auf die Brust. Die Geste war unmissverständlich: keine Männer! Kink ließ seine Familie nicht aus den Augen, und als die Matrosen abgelenkt waren, schlüpfte er durch die Absperrung. 35 Minuten vor dem Untergang schaffte er es von Bord.

„Der Brief bestätigt, dass es für Passagiere der Dritten Klasse nicht unmöglich, aber doch weitaus beschwerlicher war, ein Rettungsboot zu erreichen“, sagt Bäbler. Was das für den alleinstehenden Leo Zimmermann bedeutete, lässt sich nur erahnen. Schaffte es Leo jemals an Deck? Musste er vor verschlossenen Türen auf den Tod warten, weil ihm der Zugang zu den oberen Klassen verwehrt wurde? Gehörte er zu den Menschen, die in den eiskalten Fluten um ihr Leben kämpfen und schließlich erfrieren mussten?

Leo Zimmermann (vierter von links) mit Mitgliedern des Musikvereins Todtmoos.
Leo Zimmermann (vierter von links) mit Mitgliedern des Musikvereins Todtmoos. | Bild: Musikverein Todtmoos

Anton und Luise Kink im Rettungsboot hörten in sicherer Entfernung die Schreie der auf der Titanic zurückgebliebenen Menschen. Ohnmächtig müssen sie zuschauen, wie das stolze Schiff von den Fluten verschluckt wurde. 1496 Menschen starben, unter ihnen auch Leo Zimmermann und Kinks Geschwister Maria und Vinzenz.

Im Eingangsbereich des Todtmooser Friedhofs erinnert seit vergangenem Jahr eine Gedenktafel an Leo Zimmermann. Der Titanic Verein Schweiz hat sie mit Unterstützung der Gemeinde, der Familie und des örtlichen Musikvereins anbringen lassen. Leo spielte Trompete und gehörte 1896 zu den Gründungsmitgliedern. Mario Zimmermann ist froh, dass an das Schicksal seines Großonkels gedacht wird. „Er war jung, träumte von einem besseren Leben und wurde urplötzlich beim berühmtesten Schiffsunglück der Welt aus dem Leben gerissen. Schön zu wissen, dass er nicht in Vergessenheit gerät“, sagt der 42-Jährige.

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