Im Flüchlingslager „Kara Tepe“ auf der griechischen Insel Lebos leben mehr als 7000 Menschen aus Afghanistan, aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Syrien, Somalia und dem Irak unter widrigsten Bedingungen. Nach wie vor wählen viele den gefährlichen ihn übers Meer, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein Großteil schafft das nicht, weil sie von der griechischen Küstenwache, finanziell unterstützt von den übrigen EU-Ländern, und der Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in die Türkei zurückgetrieben werden. Viele nehmen die riskante Reise mehrmals auf sich.

Einer, den der Umgang Europas mit den Flüchtlingen maßlos ärgert, ist Arndt Dohmen, bis 2011 Chefarzt der Bad Säckinger Hochrheinklinik. Er kennt die Verhältnisse vor Ort. Erst Anfang des Monats kehrte er von einem sieben Wochen dauernden ehrenamtlichen Einsatz als Mediziner auf der Insel Lesbos zurück nach Hänner. Im Gepäck auch die Kenntnis über etliche Einzelschicksale. Die von den Zuständen in ihren Heimatländern und der Flucht traumatisierten Menschen hätten „nach vorne und nach hinten schlechte Perspektiven“, so sein Fazit. „Zurück“ hieße, zurück in ein Land, wo sie bedroht würden, „nach vorne“ gehe nicht, weil Europa keine entsprechenden Verhältnisse schaffe: „An den europäischen Außengrenzen werden die Menschenrechte mit Füßen getreten.“
„Wut und Enttäuschung“ über die europäische Flüchtlingspolitik, führten denn auch zum Entschluss, vor Ort unter dem Dach einer Nichtregierungsorganisation (NGO) zu helfen. Unbeschwerlich war für Dohmen die Reise auf die Insel Lesbos nicht. Nicht zuletzt aus Überzeugung fiel das Flugzeug als Transportmittel aus. Dohmen erreichte sein Ziel mit Bahn, Bus und Fähre. Bezahlen musste er die Reise zum Hilfseinsatz für eine Nichtregierungsorganisiation übrigens selbst.
Schlimme Zustände
Im Lager leben die Flüchtlinge in Zelten zwischen schlammigen Wegen, ohne Heizung, ohne fließendes Wasser und mit rationierter Stromversorgung durch Dieselgeneratoren, die oft ausfallen. Teilweise sind 80 Menschen in einem Zelt untergebracht, den „Privatbereich“ durch Stoffdecken abgeschirmt, erzählt Dohmen. Schutz vor Corona gibt es somit kaum. Allerdings sei während seines gesamten Aufenthaltes kein einziger Corona-Fall aufgetreten, Dohmen führt das unter anderem darauf zurück, dass jede eine Schutzmaske trug und bei vielen Gelegenheiten getestet wurde. Ausgang aus dem Lager gibt es für die Geflüchteten nur zwei mal pro Woche, wegen der Corona-Lockdown Bestimmungen jeweils nur für zwei Stunden. Kindgerechte Einrichtungen gibt es keine, seit eine außerhalb des Camps gelegenen Schule für die Flüchtlinge von Rechtsextremen abgebrannt wurde, können die Kinder nicht mehr zur Schule gehen.
In der Regel leben die Menschen den grauen Alltag über eineinhalb Jahre, manche sind vier Jahre da. Das hinterlässt Spuren, mit denen Dohmen in der täglichen Sprechstunde in einem Container konfrontiert wurde. Der Stress äußerte sich in psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Schlafstörungen – und in Selbstmordgedanken. „Weil das Leben komplett trostlos ist“, befindet Dohmen.
In die gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten sind staatliche Organisationen und mehrerer griechische und internationale NGOs einbezogen. Allgemeinärzte und Fachärzte kümmern sich. Was sich zunächst gut anhört, sei allerdings ein „komplett überlastetes System“, indem eine adäquate Behandlung mehrheitlich auf der auf der Strecke bliebe. Viel zu selten käme man an die tieferen Ursachen der Symptome heran. Wenn schwer kranke Patientinnen und Patienten zur Behandlung eigentlich aufs Festland in Spezialkliniken verlegt werden müssten, scheiterte dies in der Regel an der fehlenden Genehmigung der griechischen Behörden, weil das Asyl nicht bewilligt sei oder weil den Menschen unterstellt werde, sie wollten ihre Beschwerden nur benutzen, um von der Insel nach Athen oder in andere Länder zu gelangen.
Dohmens „erschütternde Erkenntnis“ am Ende des Einsatzes: „An der Hoffnungslosigkeit der Lebensumstände und Perspektiven dieser Menschen haben wir gar nichts geändert.“ Alle, die ihr Leben riskiert haben, um nach Europa zu kommen, hätten dies auf sich genommen wegen Traumatisierung durch Gewalt, Folter und Vergewaltigung, die sie in ihren Heimatländern und auf der Flucht erlebt hätten. „Wir aber heißen sie entgegen unserer Werteversprechungen nicht willkommen, sondern dulden eine menschenunwürdige, gefängnisähnliche Unterbringung und treiben sie zurück aufs Meer.“ Dohmen tritt dafür ein, die Geflüchteten auf verschiedene Länder zu verteilen, sie zu integrieren und zu motivieren. In Deutschland gebe es zum Beispiel 234 Städte, die sich als sichere Häfen bereit erklärt hätten, sofort zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Leider bringe die Regierung den Mut nicht auf, diese Hilfsbereitschaft zuzulassen.
Im Rahmen seiner Möglichkeiten will Dohmen weiter auf Lesbos helfen. Geplant ist das für den kommenden Winter. Im Herbst ist der Mediziner voraussichtlich für die Organisation „German Doctors“ in Bangladesh im Einsatz – das dritte Mal nach 2018 und 2019.