Für die Zuschauer ist es ein Heidenspaß, für die meisten Angeklagten wohl eher ein zweifelhaftes Vergnügen: Das Hochnotpeinliche Malefiz-Narrengericht der Bürger- und Narrenzunft 1503 Tiengen. Es bringt alljährlich am Fastnachtssamstag lokale „Verbrechen“ ans Tageslicht und ist durch das Narrenbrett aus dem frühen 18. Jahrhundert historisch verbürgt. Nach Aufzeichnungen verlieh Kaiser Maximilian I. den Tiengener Zünften das Recht, an drei Tagen im Jahr die Obrigkeit zu verunglimpfen „ohn der Straf zu gewärtigen“. Nach gewissen Einschränkungen durch die damaligen Herrscher, erneuerte 1602 eine kaiserliche Abordnung dieses Recht. „Das Narrengericht, verbürgt durch das Narrenbrett, ist Ursprung und Kern der Tiengener Fasnacht“, so Zunftmeister Ralf Siebold.

Bei den Angeklagten handelt es sich immer um in Tiengen oder der Umgebung lebende Persönlichkeiten, deren Aktivitäten im Licht der Öffentlichkeit stehen. Mit närrischer Fabulierlust- und -kunst werden diese Aktivitäten von den Akteuren des Narrengerichts zu verabscheuungswürdigen Verbrechen umgemünzt. Hat das Gericht einen Delinquenten auserkoren, wird er gefragt, ob er mitmacht. Eine Frage, die nach den Erfahrungen des aktuellen Narrenrichters Klaus-Dieter Ritz, in der Regel nicht mit Freudensprüngen aufgenommen wird: „Kaum einer sagt spontan ja, Standardantwort ist, sie wollen erst die Frau oder den Mann fragen.“ Nach einer gewissen Bedenkzeit wären aber die meisten bereit, mitzumachen. Angeklagter zu sein, bedeutet Arbeit und meist entwickelt sich auch Ehrgeiz. Jeder Angeklagte möchte mit närrischer Raffinesse glänzen und möglichst scharfsinnige Stellungnahmen zu den Anklagepunkten formulieren.
Aus Sicht der Tiengener Zunft ist es eine Ehre, vom Narrengericht angeklagt zu werden. „Wer was gelten will, muss vor dem Narrengericht stehen“, so Zunftmeister Ralf Siebold. Diese Ehre wird beim heutigen Narrengericht Waldshut-Tiengens OB Philipp Frank zuteil. Wie immer, wird das närrische Gerichtsspektakel mit geschliffenen Reden punkten, die allerdings in der Regel nicht zimperlich sind und Spielraum lassen. „Unser Narrengericht ist rustikal und Improvisationen und Zwischenrufe des Publikums sind erwünscht“, sagt Narrenrichter Ritz. Dies mit Blick auf das wohl bekannteste Narrengericht überhaupt, das Stockacher, bei dem es sehr streng und formell zugehen würde.
Die Narrengerichte
Narrengerichte gehören zum überlieferten Brauchtum der schwäbisch-alemannischen Fasnacht und waren im Mittelalter häufig anzutreffen. Sie sind Ausdruck des sogenannten Rügerechts, das Narren traditionell zubilligt, an Fasnacht über ausgesuchte Menschen und ihre Handlungen humorvoll-satirisch „herzuziehen“. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Narrengerichte gelegentlich auch von der Obrigkeit verboten. (ufr)
Das Wort Malefiz als Teil des Namens des Narrengerichts ist keine Fantasieschöpfung. Malefiz stammt aus dem lateinischen und bedeutet so viel wie Verfehlung, Verbrechen. Malefizgerichte hießen früher hohe Gerichte, vor denen auch schwerste Verbrechen verhandelt wurden. Tiengen hatte einst eine solche Gerichtsbarkeit. Jedes Narrengericht hat je nach Region seine eigenen Regeln. In Bad Säckingen werden zum Beispiel nur Bürgermeister angeklagt. Das Tiengener Narrengericht wie es heute stattfindet, ist Ergebnis von Weiterentwicklungen.
Gut dokumentiert ist das Narrengericht mit Fotos ab etwa den 50er Jahren. Es tagte nach dem Krieg zunächst auf dem Marktplatz und wechselte danach mehrmals den Ort. Joachim Mei, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Hochrhein, war der Erste, dem 2012 im Hof beim Storchenturm der Prozess gemacht wurde. Dort ist das Narrengericht am richtigen Ort angekommen, denn der Storchenturm war einst ein Gefängnis. Dank des hölzernen Anbaus entlang der Mauer, kann das Gericht hoch über den Köpfen der Zuschauer tagen und ist so weithin sichtbar.

Auch vom Ablauf her gab es immer wieder Änderungen mit dem Hauptziel, die Verhandlungen noch attraktiver für das Publikum zu machen. Während Delinquenten heute vorzeitig die Anklagepunkte kennen und so Zeit haben, sich auf die Verhandlung vorzubereiten, traf es früher Ahnungslose. Erst während der Verhandlung wurde ein Delinquent ausgesucht. Verändert haben sich auch die Häser, die Richter, Ankläger und Fürsprech tragen. Dunkle Talare und dunkle Hüte wichen leuchtend roten Talaren und gelockten weißen Perücken mit rot-schwarzen, barettförmigen Kopfbedeckungen.
Auch an anderen Orten wird angeklagt
-
WeilheimDas hochwohllöbliche Wiilemer Malefiz-Gericht tagte am Schmutzigen Donnerstag bereits zum 21. Mal. Für die Rechtsprechung sind die Weilheimer Schulschließer zuständig. Seit Jahren dominieren die Frauen die Plätze hinter dem Richtertisch. Neben den vier Richterinnen ist Klaus Zitzwitz der einzige Mann in dem Gremium, sozusagen der „Quotenmann“. Angeklagt werden in der Regel prominente Bürger aus Gemeindepolitik und -verwaltung sowie aus den Vereinen des Ortsteils. Die verhängten Strafen dienen häufig der Unterhaltung der Öffentlichkeit, wenn man auch nicht verschweigen darf, dass sich der Richtertisch schon gerne einmal auf Kosten der verurteilten Delinquenten mit Speis und Trank verköstigen ließ. (bin)
-
Bad SäckingenWährend in Weilheim und in Tiengen immer andere Personen des öffentlichen Lebens angeklagt werden, muss der Bürgermeister in Bad Säckingen jedes Jahr aufs Neue diese Qual über sich ergehen lassen. Das Stadtoberhaupt wird bereis am 6. Januar abgesetzt und im Gallusturm vor das Narrengericht gestellt. Vor versammelter Stadtprominenz werden ihm alle Verfehlungen des vergangenen Amtsjahres vorgeworfen, gegen die er sich selbstverständlich verteidigen kann. Am Ende kommt es dennoch zum Urteil. In diesem Jahr muss Alexander Guhl – in Anlehnung an die Spitalschließung – als Strafe einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren. (ska)
Eine große, sehr publikumswirksame Neuerung wurde 2003 bei der 500. Tiengener Fasnacht eingeführt. Erstmals drehte sich in diesem Jahr beim Tiengener Narrengericht das Folterrad. „Zur Jubiläums-Fasnacht wollten wir etwas Besonderes machen“, so Henker Rolf Krämer, der es konstruiert hat. Die Henker spielten bei den folgenden Narrengerichten eine immer größere Rolle, so dass sie schließlich eine eigenständige Narrenzunftgruppe wurden.

Das Folterrad ist kein historischer Nachbau, aber im Mittelalter war das Rädern durchaus eine gängige Vollstreckungsmethode. Der erste Angeklagte, der von den Henkern aufs Folterrad gekettet wurde, war der CDU-Politiker Thomas Dörflinger. Angefeuert von den Guggenmusikern der Fidelen Stammtischler – Dörflinger ist dort Mitglied – vergaßen die Henker jedes Maß und drehten ihn besonders kräftig durch. Weil Dörflinger seine Sache so gut gemacht hatte und wie Rolf Krämer verrät, den Henkern ihr übertriebenes Engagement nicht übel genommen hatte, durfte er im folgenden Jahr gleich nochmals vor dem Gericht stehen. Er ist bislang der einzige, der zwei Mal diese Ehre hatte. Nicht alle haben bislang das Folterrad so gut überstanden wie Thomas Dörflinger. „Manchen ist es hundeelend geworden“, verrät Narrenrichter Klaus-Dieter Ritz. Die erste Frau auf dem Folterrad war 2014 Christa Bader. Sie hat damals das aus ihrer Sicht größte Problem pragmatisch gelöst: Damit ihr Dirndl beim auf dem Kopf stehen nicht nach oben rutscht und unerwünschte Einblicke freigibt, hat sie es mit Klebeband fixiert.
Das 514. Narrengericht tagt heute, 10. Februar, ab 11.11 Uhr im Innenhof beim Storchenturm. Angeklagter ist Oberbürgermeister Philipp Frank. Es heißt, dass mit ihm ein besonders „ergiebiger“ Delinquent gefunden wurde. Die Liste der Verbrechen soll so lang sein, dass aufgrund der begrenzten Gerichtsdauer, nur seine schlimmsten verhandelt werden können.
Die bisherige Angeklagten
2017: Nikola Kögel, Buchhändlerin und Sprecherin der Aktionsgemeinschaft Tiengen
2016: Martin Gruner, damals Bürgermeister
2015: Felix Schreiner, CDU-Politiker
2014: Christa Bader, Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Tiengen
2013: Bobby Wagner, Getränkehändler und Surianer
2012: Joachim Mei, Volksbank-Chef
2011: Rainer Stockburger, damals evangelischer Pfarrer Tiengens
2010: Thomas Schäuble, damals Rothaus-Geschäftsführer
2009: Klaus Danner, damals Chef der Waldshut-Tiengener Polizei
2008: Hartmut Schölch, Leiter des städtischen Kulturamtes