Der Eisvogel lässt sich Zeit. Vielleicht kommt er gar nicht, oder erst dann, wenn kein Mensch mehr in der Beobachtungshütte am Ende des Erlebnispfades hinter dem Birdlife-Naturzentrum in Kleindöttingen sitzt. Bei Vögeln weiß man nie. Weshalb, wer Vögel beobachten will, vor allem eine Eigenschaft mitbringen muss: Geduld. Hobby-Ornithologen, also Vogelkundler, wissen das. Manchmal verbringen sie mehr Zeit beim Beobachten der gefiederten Gäste, als ihnen lieb ist. Jedoch: Der Lohn kann unter Umständen der Blick auf einen seltenen Vogel sein. Der Eisvogel ist einer davon.
Und wie wäre es mit dem Odinshühnchen? Dem Blaukehlchen? Bekassine? Beutelmeise, Bartmeise, Rohrdommel, Löffelente? Sie und noch viele andere – das Naturzentrum Birdlife nennt 300 Vogelarten, die beobachtet worden sind – verbringen mal mehr, mal weniger Zeit am Klingnauer Stausee. Besonders im Herbst wird das ausgedehnte Gebiet zwischen Koblenz gegenüber von Waldshut und Döttingen für Vogelbeobachtungen genutzt, wenn die Zugvögel Rast machen. „Der Klingnauer Stausee bietet mit seinen vielen Biotopen einen Lebensraum“, erklärt Nic Gehre, Praktikant am Birdlife-Naturzentrum, „für die Vögel ist er ein Hot-Spot“. Offenbar nicht nur für die Vögel, sondern auch für die Ornithologen, für Radfahrer, Jogger und Spaziergänger.

Der Klingnauer Stausee gilt als eines der wichtigsten Feuchtgebiete der Schweiz. Im Wasser- und Zugvogelreservat finden Brutvögel, Durchzügler und Wintergäste Lebensraum. Hinzu kommen Auengebiete und Flachmoore, die einmalige Tier- und Pflanzenarten beherbergen. Für viele Zugvögel ist der Klingnauer Stausee unabdingbar. Limikolen (Watvögel) zum Beispiel nutzen die schlammigen Flächen zum Ausruhen und Nahrung Suchen. Auf den Wasserflächen tummeln sich Enten und Gänse. Das Röhricht bietet Schutz für kleinere Vögel. Was heute selbstverständlich ist, war einst anders.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts floss die Aare frei durch das untere Aaretal, überschwemmte regelmäßig große Flächen und gestaltete die Landschaft immer wieder neu. Die Wasserstände variierten dabei so stark, dass die Aare bei Hochwasser bis zu vier Mal mehr Wasser führte als bei Niedrigwasser. Mit den Hochwassern fanden auch große Materialverschiebungen statt, bei denen Kiesbänke entstanden, Inseln verschwanden und das Ufer abgetragen wurde. Doch um die Dörfer vor Überschwemmungen zu schützen und das Schwemmland nutzbar zu machen, wurde die Aare um 1900 begradigt. Aus dem mäandernden Fluss wurde ein nur 150 Meter enger gerader Kanal. Die Ufer wurden verbaut, das Schwemmland trockengelegt. Von den großflächigen Auen blieben nur kleine Reste übrig. Die Folge: Viele Lebensräume gingen verloren, die Artenvielfalt ging zurück.

Dann kam die Wasserkraftnutzung für Elektrizität. Zwischen 1931 und 1935 wurde das Aarekraftwerk bei Klingnau gebaut. Die Aare wurde gestaut, der Wasserpegel stieg um mehrere Meter und der Fluss verwandelte sich in einen Stausee. Dadurch wurden weitere Reste der ursprünglichen Flussaue zerstört.
Gleichzeitig bot der Stausee aber neuen Lebensraum für Wasservögel. Was auch geschah: Er begann zu verlanden. Flachwasserzonen entstanden, darin breitete sich das Röhricht aus, danach Büsche, Bäume, Schilfinseln bildeten sich und bei Kleindöttingen Auenwald. „Auen sind der artenreichste Lebensraum überhaupt“, berichtet Nic Gehre.

Der Stausee ist heute eine Landschaft von großer Bedeutung für die Artenvielfalt. Deshalb gilt für ihn das Schutzdekret des Kantons Aargau. Der Stausee ist von einem Rundweg mit Beobachtungspunkten umgeben. In der Nähe des erst vor zwei Jahren eröffneten Birdlife-Naturzentrums befindet sich sogar ein Beobachtungsturm. Der Stausee ist frei zugänglich. Für die Fischerei bestehen ausgewiesene Flächen.

Hinter dem Birdlife-Naturzentrum mit dessen permanenter Ausstellung erstreckt sich der Erlebnispfad, ein Gelände, auf dem die Lebensräume der Auenlandschaft und ihre typischen Bewohner zu entdecken sind. Dass es an industriell genutzte Gebäude grenzt, scheint die Vögel nicht zu stören. Der Eisvogel – der fliegende Edelstein unter den Vögeln – jedenfalls hat die künstliche Brutwand am Teich angenommen und dort in diesem Jahr gleich zweimal gebrütet. Das Paar grub eine 70 bis 100 Zentimeter lange Brutröhre, brütete die Eier aus, fütterte sich gegenseitig sowie die Jungtiere und flog ständig hin und her. Auf dem Erlebnispfad befinden sich zudem acht interaktive Stationen, an denen spielerisch erfahren werden kann, wozu Trockensteinmauern gut sind, welche Tiere eine 360-Grad-Rundumsicht haben, welcher Fisch ein schlechter Schwimmer ist oder warum der Eisvogel kein Eis mag. Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall.