Man kennt die Bilder aus Fernsehreportagen oder vielleicht sogar aus eigener Erfahrung: Menschen dicht gedrängt in Treppenhäusern, die zugelassen werden wollen für eine Wohnungsbesichtigung. 40, 80, 100 Menschen, die sich um eine Wohnung bewerben. Doch bisher waren solche Szenen eher in Ballungsräumen oder Studentenstädten zu beobachten, wo es immer darum geht, eine bezahlbare Bleibe zu ergattern. So ist es in Konstanz, in Freiburg oder Berlin.
Nun also auch in Gottmadingen. Wer bisher dachte, dass die kleine, prosperierende Hegau-Gemeinde mit 10 256 Einwohnern noch genügend Wohnungen für Menschen mit mittleren oder geringeren Einkommen hat, der sieht sich eines Besseren belehrt. Auch in Gottmadingen stehen die Bewerber für eine Wohnung der Bilger-Stiftung Schlange. Genauer gesagt für neun Wohnungen: sechs Drei-Zimmer-Wohnungen mit je 72 Quadratmetern und drei Zwei-Zimmer-Wohnungen mit je 45 Quadratmetern. Rund 50 Personen stehen vor dem Eingang, um das Haus in der Hilzinger Straße besichtigen zu können. Weitere 150 Bewerbungen hat Andreas Reischmann von der kommunalen Gebäudeverwaltung schriftlich bekommen. Weitere werden bis zum 15. Dezember kommen. Der Gebäudemanager hatte mit einer großen Nachfrage gerechnet. Aber so viele Bewerbungen?

Die Miete ist bei 6,30 Euro pro Quadratmeter gedeckelt, weil es sich um geförderten Wohnraum handelt. Einen Mietenspiegel gibt es in Gottmadingen nicht. Wohnungen auf dem freien Markt werden aber in Gottmadingen häufig erst ab 9,50 oder 10 Euro pro Quadratmeter vermietet. Das können sich viele nicht leisten.
Bewerbungen bis 15. Dezember
„Wir wollten jetzt für unsere Bürger etwas tun“, erklärt Andreas Reischmann, der sich immer wieder anhören musste, dass die Gemeinde Unterkünfte für Flüchtlinge gebaut hat. Und so entstand die Idee, Geld aus der Bilger-Stiftung in den Neubau eines geförderten Mehrfamilienhauses zu investieren. 1,7 Millionen Euro kostet das dreigeschossige Haus, das im Februar 2020 bezugsfertig sein soll. Wer eine Wohnung ergattern will, der muss zunächst einen Bewerbungsbogen ausfüllen. Am 15. Dezember ist Bewerbungsschluss. Danach wird eine vierköpfige Kommission in einem Auswahlverfahren entscheiden, wer in den Neubau einziehen darf.

Auffallend viele Frauen sind zum Besichtigungstermin in die Hilzinger Straße 50 gekommen. So auch Sylvia Gonzalez aus Binningen. Die schwerbehinderte Frau möchte mit ihrer Tochter Sabrina wieder nach Gottmadingen zurückkommen, wo sie viele Jahre gelebt und immer noch viele soziale Kontakte hat. Ohne Auto sei man in Binningen sehr isoliert. Das spürt auch Sabrina, die auf die Singener Zeppelin-Realschule geht, und der die schlechte Busverbindung zu schaffen macht. Auch die Einkaufsmöglichkeiten seien in Gottmadingen viel besser. Doch das Wichtigste ist Sylvia Gonzalez, dass die Wohnungen bezahlbar sind.

Marlies Sommer ist aus Engen gekommen, weil sie sich für eine Zwei-Zimmer-Wohnung interessiert. In Engen bewohnte sie zusammen mit ihrem verstorbenen Mann ein Haus, dessen Besitzer nun Eigenbedarf geltend machen. „Ich bete inständig, dass ich eine Wohnung bekomme“, sagt die Rentnerin, die sich von der Obdachlosigkeit bedroht fühlt. „Der Zuschlag wäre mein schönstes Weihnachtsgeschenk.“
Eine Frau lässt sich im Rollstuhl von einem Malteser-Mitarbeiter reinschieben. Ihren Namen möchte sie nicht nennen. Aber sie erzählt, dass sie seit 2017 auf der Suche nach einer barrierefreien Wohnung ist, die sie sich leisten kann. Diese Bedingung trifft für die drei Erdgeschosswohnungen zu.

Eigenbedarf bringt Mieter in Not
Sabine Heinz ist alleinstehend. Auch sie kommt aus Engen und hat eine Eigenbedarfskündigung von ihrem Hausbesitzer bekommen. Ende Februar muss sie aus ihrer Wohnung ausziehen. Nach einer Operation müsste sie eigentlich in die Reha. Doch sie traut sich nicht, solange sie noch keine neue Wohnung gefunden hat, die sie bezahlen kann. Seit einem Dreivierteljahr ist sie auf der Suche. Die drohende Räumungsklage bereitet ihr schlaflose Nächte.
Die meisten der Menschen, die zur Hausbesichtigung gekommen sind, befinden sich in einer persönlichen Notlage. Das wird schnell deutlich, wenn man mit ihnen spricht. Alleinerziehende Mütter wie die Bürokauffrau Sabrina Wipf, die mit ihrer dreijährigen Tochter ein neues Zuhause sucht, sind besonders betroffen.
Eigenes Einkommen erforderlich
„Jeder Bewerber muss in einer Selbstauskunft Angaben zur Person und über sein Einkommen machen“, erklärt Alexander Kopp vom Bauamt der Gemeinde Gottmadingen, der den Neubau betreut. „Wer keinen Wohnberechtigungsschein hat, kommt gar nicht ins Auswahlverfahren.“ Das hört sich zunächst strenger an, als es ist. Tatsächlich kommen Familien mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen unter 66 000 Euro in Frage. Einzelpersonen dürfen nicht mehr als 49 000 Euro im Jahr verdienen, um einen Wohnberechtigungsschein zu erhalten. „Heute haben schon Altenpfleger, Krankenschwestern, Mitarbeiter der Müllabfuhr, Montagearbeiter oder auch Rentner es schwer, mit ihrem Einkommen eine entsprechende Wohnung für sich und ihre Familie zu finden“, sagt der Gottmadinger Bürgermeister und Stiftungsratsvorsitzende Michael Klinger. „Genau für diesen Personenkreis möchten wir mit den neuen Wohnungen ein Angebot im Bereich des bezahlbaren Wohnraums machen.“ Am Ende des Besichtigungstermins stapeln sich die Bewerbungen in einer Kiste. Sie zeugen davon, dass der Bedarf nach solchen Wohnungen groß ist.