Sie nennen sich Team Bodensee. „Wir gehören einfach zusammen“, erzählt Julia Capellino lächelnd. „Uns gibt’s nur im Dreierpack“, fügt Mäx Kessler grinsend hinzu. „Das gemeinsame Schicksal hat uns zusammengeschweißt“, sagt Isabel Allert und gibt der Unterhaltung damit eine Wende zu etwas mehr Ernsthaftigkeit. Das gemeinsame Schicksal. Leukämie. Erst schlug die Bestie bei Isabell Allert zu, dann packte sie sich Mäx Kessler und schließlich nahm sie Julia Capellino in den Würgegriff.

Von heute auf morgen änderte sich das Leben der drei und ihrer Familien komplett, nichts war mehr wie vorher. An diesem winterlichen Abend im Advent sitzen die drei bei Kräuterlimonade, Tee und, ja, auch einem Glas Weißwein-Schorle im Ko’Ono in Litzelstetten. Team Bodensee nimmt sich vier Stunden Zeit für den SÜDKURIER und blickt auf ein Jahr zurück, das einer emotionalen Achterbahn glich.

Was die drei in wenigen Monaten erlebten, reicht für ein ganzes Leben

Die Stichworte sind schnell gefunden: Todesängste, Menschlichkeit, Hoffnung, zweiter Geburtstag. Was die drei in wenigen Monaten erlebten, reicht für ein ganzes Leben. Sie durchliefen die Hölle auf Erden und erlebten doch den schönsten Moment ihres Lebens. Sie fanden ihre anonymen Lebensretter. Irgendwo auf der Welt haben drei Menschen ihr Knochenmark gespendet, das den drei von Team Bodensee das Leben gerettet hat. Doch der Reihe nach.

Die Diagnose

Isabel Allert verbrachte ihren Urlaub nach dem bestandenen Abitur 2016 am Ellenrieder Gymnasium mit ihrer Mutter in Fernost. Dort realisierte sie, dass sie schneller als sonst müde und kraftlos wurde. Gründe dafür waren schnell gefunden: andere Zeitzone, anderes Klima, der abgefallene Schulstress. Der Mensch ist sofort dabei, wenn es um passende Erklärungen geht.

Dabei war Isabel Allert eine Modelathletin, trieb Sport, wann immer es ging. Wieder zu Hause, begann sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin auf der Reichenau. Doch die körperliche Verfassung wurde nicht besser – im Gegenteil. Am 18. November 2016 erhielt sie die niederschmetternde Diagnose: Akute Myeloischen Leukämie AML.

 

Der Moment, als Isabel Allert von der Diagnose Leukämie erfuhr.

 

Zuerst hieß es: Magen-Darm-Probleme

Mäx Kessler, der beliebte Fasnachter der Konstanzer Hofpeter, bezeichnet den Moment, als er von seiner Erkrankung erfuhr, als „heftigen Schlag ins Gesicht. Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen“. Verdacht auf Magen-Darm-Probleme hieß es zunächst. Nichts Neues in seinem Leben, da er schon seit Jahren mit einer chronischen Krankheit im Verdauungstrakt zu kämpfen hatte.

Diverse Test wurden durchgeführt, wochenlange Ungewissheit nagte an seinen Nerven. Die Beschwerden wurden nicht weniger – im Gegenteil. „Der Arzt sagte dann nach rund vier Wochen zu mir: Mit ihrem Magen-Darm-Trakt ist so weit alles in Ordnung. Dafür aber haben sie Leukämie.“ Leukämie. Rums. Noch heute bleibt ihm die Luft weg, wenn er an den wenig feinfühligen Mann in weiß denkt.

 

Der Moment, als Mäx Kessler von der Diagnose Leukämie erfuhr. Video: Oliver Hanser

 

Die Hoffnung auf eine Verwechslung

Julia Capellino, Studentin an der Universität Konstanz aus Volkertshausen, wollte eigentlich nur wissen, warum sie in letzter Zeit einen so seltsamen Ausschlag hatte. Die konsultierte Heilpraktikerin veranlasste ein Blutbild. Das, was sie dort wenige Tage später sah, ließ den Verdacht aufkommen, das Labor habe die falsche Probe zurückgeschickt. „Sie ging davon aus, dass das nicht mein Blutbild sein konnte, da es so schlecht aussah, ich mich aber so gut fühlte“, berichtet Julia Capellino. Ein zweites Blutbild zerstörte die Hoffnung auf eine Verwechslung jäh. 

 

Der Moment, als Julia Capellino von der Diagnose Leukämie erfuhr. Video: Oliver Hanser

 

Dem Krebs keinen Triumph gönnen

Die Hoffnungen, in der eigenen Familie einen passenden Knochenmark-Spender zu finden, zerschlagen sich schnell. In Freiburg müssen sich Isabell, Mäx und Julia zermürbenden und schmerzhaften Therapien unterziehen. Kanülen und Schläuche, das Gesicht versteckt hinter einem Mundschutz. "Bevor mir das Haar ausfiel, habe ich es abgeschnitten", erzählt Isabel Allert. "Diesen Triumph wollte ich dem Krebs nicht schenken."

Julia Capellino drückt es so aus: "Wir wollten der Krankheit immer einen Schritt voraus sein", erklärt sie. "Es war so schlimm, als ich mir die Haare abrasiert habe." Ein Tiefschlag war für sie, als die Wimpern und Augenbrauen ausfielen. "Das hat mich ganz tief getroffen."

Das erste Treffen von Team Bodensee

Im Schwarzwald treffen sich die drei erstmals. Im Internet und über den SÜDKURIER haben sie über ihre Schicksale gelesen. „Ich wusste über Facebook und die Zeitung, dass der Mäx auch hier sein sollte“, erinnert sich Julia an das Frühjahr. „Also habe ich ihn angeschrieben und es stellte sich heraus, dass er im Nebenzimmer lag.“ Julia und Mäx schrieben sich Nachrichten, gaben sich gegenseitig Kraft und Zuversicht. „Sehen durften wir uns leider noch nicht“, sagen sie. „Wir waren quasi unter Quarantäne.“

Isabel Allert ist zu diesem Zeitpunkt schon weiter, wartet auf ihre Stammzellentransplantation. Die frohe Botschaft, dass ihr genetischer Zwilling gefunden war, kann sie noch heute kaum beschreiben.

 

Ein Spender wurde für Isabel Allert gefunden. Video: Oliver Hanser

 

Isabel sucht die Mit-Patienten aus der Heimat in der Klinik auf und spricht ihnen Mut zu. „Sie war unglaublich positiv und sagte immer nur: Wir schaffen das“, erinnert sich Julia Capellino. Gegenseitig bauen sich die drei auf, ziehen sich aus den so regelmäßig wie gnadenlos auftauchenden emotionalen Tiefs heraus. Einer für Alle, Alle für Einen.

Mäx Kessler gibt den Geist wieder, den sie entwickelten: „Wir haben dem Krebs gesagt, dass er sich bei Team Bodensee aber mit den falschen angelegt hat.“ Schließlich finden auch Mäx und Julia eine passende Stammzellenspende.

 

Ein Spender wurde für Mäx Kessler gefunden. Video: Oliver Hanser

Julia Capellino hat von der guten Nachricht beim Essen im Krankenhaus erfahren, als ihr der Arzt die gute Nachricht überbrachte.

 

Ein Spender wurde für Julia Capellino gefunden. Video: Oliver Hanser

 

Die Unterstützung durch Familie und Freunde

Jeden Tag wechseln sich Isabels Eltern ab und fahren mit dem Fernbus nach Freiburg. Unterstützung erhält Isabel auch von ihren Freunden, die täglich in den Breisgau reisen. „Es gab nichts wichtigeres als meine Familie und meine Freunde während dieser harten Zeit“, bestätigt die junge Frau.

Julia nickt: „Meine Eltern waren immer für mich da“, erzählt sie, möchte jedoch eine weitere Person herausstellen: „Thomas Umbscheiden, der Direktor meines ehemaligen Gymnasiums in Engen, wurde zu meinem ganz persönlichen Helden.“

Der 49-Jährige organisierte die große Typisierungsaktion in der Schule, verteilte Poster, teilte freiwillige Helfer ein, telefonierte sich die Finger wund. „Er ist ein Glücksfall“, sagt Julia. „Er hat mir und meiner Familie Kraft gegeben.“ Mäx wollte nach der Diagnose seine Mutter schützen. „Sie sollte sich mit ihren 77 Jahren nicht jeden Tag nach Freiburg aufmachen“, erklärt er. „Ich kenne so viele tolle Menschen, die mich unterstützt und immer wieder aufgebaut haben. Michaela und Mike sind gigantische Freunde.“

Die medizinischen Folgen der Krankheit

Irgendwann zählen die drei die Medikamente auf, die sie jeden Tag nehmen müssen. „Moment“, sagt Mäx Kessler. Er flüstert leise vor sich hin, seine Finger bewegen sich auf und ab, er zieht die Stirn in Falten. „Acht am Morgen.“ Kurze Pause. Nachdenken. „Zwei mittags, vier abends. Dazu Folsäure, Magnesium.“ Und schließlich lacht er laut: „Ich bin eine wandelnde Apotheke.“ Er hat gelernt, die Medikamente als Lebensbegleiter zu akzeptieren. "Es bringt ja nichts, wenn ich darüber beschwere. Die Pillen helfen mir und sie sind meine Freunde."

Gespräch im Litzelstetter Ko'Ono über Gott und die Welt: SÜDKURIER-Redakteur Andreas Schuler, Mäx Kessler, Julia Capellino und Isabel ...
Gespräch im Litzelstetter Ko'Ono über Gott und die Welt: SÜDKURIER-Redakteur Andreas Schuler, Mäx Kessler, Julia Capellino und Isabel Allert (von links). Die drei nahmen sich über vier Stunden Zeit. | Bild: Oliver Hanser

Die beiden jungen Frauen sind seit der Therapie hormonell in den Wechseljahren. „Ich bin unfruchtbar geworden, das ist sehr traurig. Aber so verrückt es klingt: Die Alternative wäre gewesen, mein Leben zu gefährden“, erzählt Isabel Allert. „Ich habe für mich entschieden, später ein Kind zu adoptieren.“

Erstaunlich abgeklärt und erwachsen für einen 19-jährigen Menschen. Im Januar muss sie sich einem weiteren Test unterziehen. Es besteht noch eine Resthoffnung. Julia Capellino war noch in der Lage, eine Hormontherapie durchzuführen.

Das heißt: Ihre Eizellen wurden vor der Therapie eingefroren, was irgendwann eine künstliche Befruchtung möglich machen sollte. "Aber hey", sagt sie und schaut Isabel Allert an. Beide lächeln sich an und nicken. "Wir sind am Leben. Es geht uns gut. Worüber wollen wir uns beschweren?" Mäx stimmt zu: "Bravo Julia. Bravo, Isabel. So isches. Mer lebet noch. Uns goht's guet. Des Lebe is so schön."

Neue Sicht auf die Dinge

"Wenn ich sehe, über was für Kleinigkeiten sich Menschen aufregen, dann kann ich nur lächeln“, berichtet Isabel Allert. Früher sei sie ähnlich gewesen. Die Nähe zum Abgrund hat die Sicht auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geklärt. „Wenn ich morgens aufstehe und es mir gut geht“, erzählt Julia Capellino, „dann weiß ich, dass das nicht selbstverständlich ist und dann bin ich dankbar dafür.“ Isabell Allert unterstreicht: „Man lebt bewusster und erfreut sich an kleinen Dingen.“

Mäx Kessler, von Natur aus eine Frohnatur, weiß heute ebenfalls jeden Moment seines Lebens zu schätzen. „Wenn ich etwas Leckeres esse, dann bin ich glücklich“, erzählt er. „Wenn ich raus schaue und sehe die Natur, die Menschen, die vielen schönen Dinge – dann weiß ich, wie toll es ist, auf der Welt zu sein.“

Er persönlich hat durch die Krankheit "die Liebe meines Lebens gefunden", wie er selbst sagt. Seine neue Lebensgefährtin hat auf Facebook eines seiner Bilder angeklickt. Als Mäx Kessler dann das Bild der Dame sah, war es um ihn geschehen. "Da sieht man doch, dass auch die schlimmsten Dinge für irgendetwas gut sind." In der Zeit der akuten Krankheitsphase habe er gelernt, wer wirklich ein Freund war und – vielleicht noch wichtiger – wer nicht. "Plötzlich trennt sich die Spreu vom Weizen", erzählt er. "Heute umgebe ich mich nur noch mit Menschen, die es wirklich gut mit mir meinen."

Angst als täglicher Begleiter

Alle drei sind wieder daheim. Isabel macht ein Pflegepraktikum an der Klinik, möchte später Ärztin werden. Juli studiert wieder an der Uni Spanisch und Deutsch auf Lehramt. Mäx ist nach wie vor krankgeschrieben, noch ist nicht klar, ob er jemals wieder wird arbeiten können.

Bei Leukämie gilt man nach zwei Jahren ohne Rückfall als geheilt. „Bis dahin hat man schon etwas Angst“, sagt Team Bodensee unisono. „Doch wir lassen uns das Leben nicht vermiesen. Dafür ist es viel zu schön.“ Doch der Respekt vor der Krankheit, die Befürchtung, einen Rückschlag zu erleiden, sind der tägliche Begleiter. "Man versucht das auszublenden", erklärt Mäx Kessler. "Ansonsten machst du dich nur selbst fertig."

Vorfreude auf Weihnachten

Julia Capellino kann die ruhigen Tage im Kreise der Familie kaum erwarten. "Ich genieße diese Zeit jetzt viel intensiver", sagt die junge Frau. "Ich werde an Weihnachten arbeiten", erzählt Isabel Allert. "Ich möchte etwas zurückgeben von dem, was ich erhalten habe." Sie spricht von Liebe, Zuneigung und Kraft. "Ich bin so dankbar, dass mir geholfen wurde. Wenn ich heute anderen helfen kann, dann geht es mir gut."

Mäx Kessler atmet seit der Erkrankung jeden Moment tief ein und genießt ihn. "Vor ein paar Monaten wussten wir ja nicht, ob wir Weihnachten überhaupt noch einmal erleben würden", sagt er. "Ich kann nur jedem empfehlen, die gemeinsamen Moment mit Familie und Freunden ausgiebig zu genießen. Das ist das höchste Gut auf Erden."

Videos: Oliver Hanser

Die Knochenmarkspenderdatei DKMS

  • Die Geschichte: 1991 starb Mechtild Harf, die Ehefrau des Gründers Peter Harf, an Leukämie. Peter Harf versprach seiner Frau, sich dafür einzusetzen, für jeden Blutkrebspatienten einen passenden Stammzellspender zu finden. Zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland 3000 Menschen als potenzielle Stammzellspender erfasst.
  • Die Vision: Das Handeln der DKMS ist langfristig ausgerichtet auf die Erfüllung der Vision: Wir besiegen Blutkrebs. Auf dem Weg dahin ist die DKMS schon weit gekommen. Aber noch ist der Blutkrebs nicht besiegt. 2004 startete die internationale Arbeit der DKMSe, zunächst in den USA, 2009 in Polen, 2011 in Spanien und 2013 in UK. Mit einem umfassenderen Tätigkeitsfeld kommt die Organisation ihrem übergeordneten Ziel näher, den Blutkrebs zu besiegen.
  • Die Datei: Weltweit sind 7,7 Millionen Personen bei der DKMS registriert, davon über fünf Millionen in Deutschland. 67 026 Stammzellenspenden wurden bisher durchgeführt. Alle 15 Minuten erhält ein Patient in Deutschland die Diagnose Blutkrebs. Nur ein Drittel findet innerhalb der Familie den Spender. Jeder zehnte sucht vergeblich. Die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Spender außerhalb der Familie zu finden, liegt bei 1:20 000 bis 1:mehreren Millionen.
  • Spender werden: Auf der Homepage www.dkms.de kann man bequem ein Registrierungs-Set bestellen. Formulare ausfüllen, mit den beigelegten Wattestäbchen Abstriche von der Wangenschleimhaut machen und das Set zurückschicken. Bei passendem Gewebe meldet sich die Datei und leitet die nächsten Schritte ein. Zwei Konstanzer haben bereits mit ihrem Knochenmark Leben gerettet. Davon haben sie uns berichtet.