Ein Kasten für besondere Post
Bild: Wetschera, Wiebke
Ich schreibe dir diesen Brief, weil... ...du mir jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht zauberst. Lieber Briefkasten in der Hieronymusgasse, du strahlst so gelb wie die Sonne, bist schlank wie ein Hochhaus und öffnest immer im richtigen Moment den Mund. Du bist mein Fels in der Brandung, auf deine Leerungszeiten kann man sich verlassen. Du lässt mich auch am späten Nachmittag und am Wochenende nicht im Stich. „Nur Liebesbriefe“ hast du dir zur Verzierung aufgeklebt. Das steht dir wirklich gut. Es gibt in der Stadt viele andere Postkästen, doch keiner ist wie du. Du bist der eine, zu dem ich gehen will, wenn ich einen Brief abschicke. Bei keinem anderen fühle ich mich so gut aufgehoben. An einigen Stellen blättert deine Farbe schon ab, der Rost kommt zum Vorschein. Du bist wohl nicht mehr der Jüngste, doch noch immer wunderschön. Und deswegen verdienst auch du an dieser Stelle einen dieser schönen Liebesbriefe, die den Menschen die Herzen höher schlagen lassen und von denen wir heute viel zu wenig schreiben. Ich hoffe, dass du noch viele kitschige Liebesbriefe versenden wirst. Dieser hier ist nur für dich, weil du die Liebe in Konstanz am Leben hälst. Ich liebe es, dass du nur Liebesbriefe versenden willst.
Wiebke Wetschera
Ein Schmetterlingsmädchen
Bild: Pfanner, Sandra
Wenn der Winternebel die Farbe aus der Stadt zieht, dann verzaubert mich... ...immer wieder ein buntes Schmetterlingsmädchen an der Ecke Stephansplatz/Wessenbergstraße. Straßenkunst kann graue Orte wieder lebendig machen und ist spätestens seit Banksy, dessen Werke für Millionen von Euro gehandelt werden, längst nicht mehr nächtliche Aktion von Teenagern mit dunklen Kapuzen. Für diesen Artikel habe ich mich auf die Suche nach dem Urheber des Schmetterlingsmädchens gemacht – und bin nach kurzer Recherche über die sozialen Medien fündig geworden. TUK ist eine Kölner Künstlerin. "Immer dann, wenn ich Freunde in Konstanz besuche, versuche ich ein kleines bisschen Kunst da zu lassen", schreibt sie per Mail. Umso schöner sei es zu sehen, dass diese zum Teil über mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre bestehen bleibt. "Und einige Menschen erfreut, wie ich ab und zu mitbekomme." Einige Arbeiten wiederum seien aber schnell weg. Das Schmetterlingsmädchen hängt schon lange in Konstanz – lebt aber eigentlich auf der Insel Bastimentos in Panama. Auf einer ihrer vielen Reisen sei TUK ihr dort begegnet. Ein bisschen Panama also in Konstanz. Wie schön.
Sandra Pfanner
Ein steinernes Gesicht
Bild: Oliver Hanser
An Häusern fasziniert mich meistens nicht ihre Größe, dass sie toll verspiegelt sind oder von einem berühmten Architekten stammen. Viel spannender finde ich... ...die kleinen Details, die eigentlich unnötig wären und die man erst entdecken muss. Ein Beispiel für ein solches Haus in Konstanz ist das Kramerhaus in der Schottenstraße / Ecke Schulstraße, eine verwunschen aussehende Jugendstil-Villa. Sie scheint direkt aus einem Harry-Potter-Roman an die Straßenecke gefallen zu sein mit ihren Giebeln, Türmchen, Rundfenstern, Ornamenten und schmiedeeisernen Gittern. Auf einem Giebel thront ein riesiger Adler. Zwei Monsterfratzen flankieren einen Erker. Aber mein Lieblings-Detail an diesem Haus ist ein Gesicht. Es trägt den Erker mit den Fratzen, und sein Ausdruck ist schwer zu deuten. Abgeklärt? Genervt? Belustigt? Verzweifelt? Je nach Licht, Jahreszeit und eigener Stimmung, wenn ich (viele hundert Mal) vorbeiging, schien das Gesicht mir etwas anderes zu sagen. Zu einem Hochhaus sage ich "Oh, wow – groß!", und das war's. Mit dem Gesicht am Kramerhaus, glaube ich, bin ich noch lange nicht fertig.
Sebastian Pantel
Der Fritz
Bild: Hanser, Oliver
Hier schlägt das Herz der Altstadt: in... ...den Konstanzer Weinstuben. Die Menschen hier drinnen sind der Puls und ihre Geschichten die Seele. Ob im Pfohlkeller zum Küfer Fritz in der Salmannsweilergasse schräg gegenüber des nicht minder urigen Salzbüchsle, ob Tamaras Weinstube zum guten Hirten in der Zollernstraße oder die Weinstube Niederburg in der Niederburggasse mit dem Weinkeller von Andreas Fritz – diese historischen Stätten verführen in eine andere Welt. Bei Andreas Fritz weht ein Hauch von Andalusien oder Apulien: kühlende Kalksteinwände, opake Weine, flackerndes Kerzenlicht. Die Luft ist geschwängert von einem rauchig-würzigen Bukett. Als würde man ein riesiges Eichenfass betreten. Hätte Bacchus in Konstanz Rebensaft trinken wollen, er wäre hier eingekehrt. Ganz bestimmt. Seit 1422 wird im Keller Wein ausgeschenkt. Seit 1640 ist das Haus im Besitz der Familie Fritz. Wer hierher kommt, weiß einen guten Tropfen zu schätzen – so wie die Mitglieder jenes freitaglichen Stammtisches, dem ich angehöre. Hier hat jeder etwas zu sagen. Beim Fritz wird getratscht, gschumpfe, geplaudert, gelästert. Hier wird Konstanz erklärt, verklärt, und, wenn es sein muss, auch mal Süßholz geraspelt. Konstanz hat viele Gesichter. Nirgendwo ist es so authentisch wie beim Fritz, in der indigenen Welt der autochthonen Bevölkerung.
Andreas Schuler
Eine aussichtsreiche Bank
Bild: Reinhardt, Lukas
Größe ist immer relativ: Zum Beispiel hier oben... ...auf dem Fürstenberg, dem Herz des gleichnamigen Konstanzer Stadtteils, ist eine Bank nur ein Detail. Erklimmt man diesen Hügel und nimmt an seinem höchsten Punkt Platz, öffnet sich einem der Blick auf die fernen Berge, den See und die Dächer der Stadt – gewöhnlich verdeckt durch die teils tristen Betonbauten Fürstenbergs. Es ist ein Ort, an dem ich über den Dingen zu stehen scheine, an dem ich die Gedanken schweifen lasse, an dem ich zur Ruhe komme. Und gleichzeitig ist es ein Ort, der mich angesichts seiner Geschichte bewegt und bedrückt. Denn tief unter meinen Füßen befinden sich alte Luftschutzstollen, die kurz vor oder während des Zweiten Weltkriegs in den Berg getrieben wurden. Hier herrschte damals das genaue Gegenteil von Freiheit und Leichtigkeit. Ende der 40er-Jahre dann wurde das Stollensystem mit Beton verfüllt. In der Folge brachen immer wieder Teile des Fürstenbergs ein – bis Ende 2012 ein Betretungsverbot ausgesprochen und ein Jahr später wieder aufgehoben wurde. Und so kann ich heute, fast fünf Jahre später, den Fürstenberg besteigen, und dort spätabends auf meiner Bank den wunderschönen Ausblick in vollen Zügen genießen.
Lukas Reinhardt
Ein Feuervogel aus Kindheitstagen
Bild: Hanser, Oliver
Ich hatte ihn schon fast aus meinen Kindheitserinnerungen verdrängt,... ...den feuerrot-goldenen Phönix an einer Fassade an der Kreuzung zwischen Rheingut- und Brauneggerstraße. Dann kamen die Harry-Potter-Bücher, die ich zwar nicht gelesen habe, aber bei denen in einem Band auch ein Phönix vorkommt. Dann kam Conchita Wurst und gewann als Travestiekünstler mit dem steigenden Phönix beim Eurovision Song Contest. Nicht meine Musik, aber irgendwas scheint mir der mythologische Piepmatz doch sagen zu wollen? Eines Tages – mehr als zwei Jahrzehnte nach unserer vorerst letzten Begegnung – sah ich ihn wieder, den Phönix aus meiner Kindheit. Und die Erinnerung an die frühen 90er-Jahre war zurück, als er die Spaziergänge von und zu Oma und Opa im Paradies einleitete oder beendete. Die Uhr, von der er noch brennend aus den Flammen (und komischerweise nicht der Asche) aufsteigt, stand damals schon still und zeigt bis heute nur zweimal am Tag die richtige Zeit an. Den kleinen Benjamin hat das beim Versuch, die Uhr zu lernen, furchtbar verwirrt. Der erwachsene Herr Brumm ist aber froh darum, die Welt kurz stillstehen zu sehen. Und dann noch diese Botschaft des Phönix aus der Asche, die immer daran erinnert: Läuft es heute vielleicht nicht so gut, kann schon morgen der nächste Erfolg vor der Türe stehen.
Benjamin Brumm
Ein heroisches Gemälde
Bild: Scherrer, Aurelia
Der Badner ist ja stolz auf seine Wurzeln... ...und betont diese nur zu gerne, um sich insbesondere von Schwaben, genauer gesagt Württembergern abzugrenzen. Und weil der Badener die gelb-rot-gelbe Fahne hoch hält, hat bei den geschichtsinteressierten Vertretern eine Doppeljahreszahl einen großen Stellenwert: 1848/1849. Sie markiert die Badische Revolution, die ihren Ausgangspunkt in Konstanz nahm. Friedrich Hecker reiste am 12. April 1848 an, um am Bodensee die ersten Mitstreiter im Kampf gegen Großherzog Leopold zugunsten einer demokratischen Republik zu finden. In Konstanzer Wirtshäusern warb er für seine Ideen und Ideologien. Heute ziert ein Gemälde am Bürgersaal in Richtung Stephansplatz die Fassade. Dort soll er in einer Volksversammlung zur Teilnahme an der Revolution aufgerufen haben, bevor er losmarschierte – mit weitaus weniger Freiwilligen, als er gedacht hatte. Am 20. April unterlag Heckers Zug bei Kandern gegen hessische und badische Einheiten. Der Aufstand war niedergeschlagen – ebenso ein erneuter Versuch im Jahr 1849. Geblieben ist die Erinnerung an einen Mann, der von Konstanz aus etwas Großartiges im Sinn hatte: die Einführung der Demokratie.
Philipp Zieger
Ein Schrank für jeden
Bild: Feiertag, Ingo
In der Wessenbergstraße 39 gibt es eine Tür..., ...die steht allen Bücherfreunden – wie ich einer bin – offen. Wer in den Flur blickt, unternimmt eine Zeitreise. Auf dem kühlen Betonboden steht ein Schrank, Modell „Eiche rustikal“, wie er in den 80er Jahren in vielen Wohnzimmern zu finden war. Während das Gros der Artgenossen – meist zu Recht – längst entsorgt wurde, dient dieses Möbelstück dem guten Zweck. Es ist ein offener Bücherschrank, aus dem man sich umsonst etwas mitnehmen aber auch jederzeit anderen Leseratten ein Buch dalassen darf. Hier ist für jeden etwas dabei. Anspruchsvolle Literatur von Friedrich Dürrenmatt oder Heinrich Böll steht neben nützlichen Klassikern wie „Yoga für jeden“ von Kareen Zebroff, wer kennt sie nicht? Der offene Bücherschrank wartet bei Wind und Wetter auf Menschen, die auch mal die Hände vom Smartphone lassen können, um zu entschleunigen und einen Sommertag mit einem Buch am See zu verbringen. Auch wenn nicht immer was für mich dabei ist, kann ich einfach nicht an dieser Tür vorbeigehen. Ich muss dem Schrank Hallo sagen. Was für ein tolles Angebot!
Ingo Feiertag