Sandra

Herr Hoffmann, als forensischer Gutachter stellen Sie eigentlich die Fragen. Wie beginnen Sie denn ein Gespräch?

Da ist genau das wichtig, was Sie auch machen: den Rahmen klären. Ich werde mit einem Gutachten beauftragt, bekomme die Akten, mache mir ein erstes Bild und treffe dann den Probanden – sei es im Gefängnis oder auf freiwilliger Basis hier im Zentrum für Psychiatrie. Die erste Frage ist, ob er oder sie überhaupt mitmacht, verpflichtet ist dazu niemand. In der Regel ist das mit dem Rechtsanwalt aber vorbesprochen. Dann kläre ich den Probanden über den entscheidenden Unterschied zu einem Patienten auf, der sich bei uns in Behandlung befindet. Nichts von dem, was in einer Begutachtung gesprochen wird, unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Stellt sich heraus, dass der Proband schon vorher in Behandlungen war, bitte ich ihn um die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht, um die Unterlagen der Behandler einsehen zu können. Verweigert der Proband das, habe ich kein Recht, diese einzusehen. Das ist der Beginn des Gesprächs – die Klärung des Rahmens. Wenn ich es für sinnvoll halte, sage ich auch mal: Wir nehmen uns jetzt anderthalb Stunden Zeit und schauen, ob das reicht, oder ob wir uns ein zweites Mal sehen oder eine Pause machen. Aber länger als anderthalb Stunden rede ich nie mit jemandem am Stück. Da lässt die Konzentration bei beiden nach.
 

Wo finden diese Gespräche statt?

Hier in meinem Büro. Kommt der Proband alleine, sitzt er mir wie Sie gerade gegenüber. Manchmal kommen Betreuer mit, manchmal Familienangehörige. Da frage ich immer, ob er möchte, dass sie dabei sind.

Wollen die Probanden überhaupt mit Ihnen sprechen?

In den meisten Fällen regen die Anwälte ihre Mandanten an, mitzumachen. Ich habe auch schon erlebt, dass Anwälte mit bei der Begutachtung saßen. Es gibt Kollegen, die das kategorisch ablehnen. Ich selbst hatte aber wenige solcher Fälle.

Entwickelt sich mit den Jahren eine Routine, mit einem mutmaßlichen Straftäter in einem Raum zu sitzen?

Ich denke schon. Gutachterlich tätig bin ich mittlerweile seit 30 Jahren. Da entwickelt sich eine gewisse Routine. Das spannende an unserem Fach ist, dass man sich in den Gutachten, im Übrigen auch in den Behandlungen, doch auch sehr in die Einzelbiographien vertieft.

Anlass dieses Interviews war ein Fall vor dem Landgericht Konstanz. In diesem ging es um einen Mann, der schon länger an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Man denkt bei „Schizophrenie“ ja sofort an Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Was ist tatsächlich kennzeichnend für dieses Krankheitsbild?

In dem Stück Jekyll und Hyde ist es so: Diese Figuren agieren in den jeweiligen Funktionen recht „gesund“. Diejenigen, die Jekyll begegnen, halten ihn nicht für krank. Diejenigen, die Hyde begegnen, halten ihn nicht für krank. Das hat mit Schizophrenie nichts zu tun. Die Diagnose Schizophrenie ist heute umstritten, was man mit ihr anfängt und was nicht.

Reden Menschen anders, wenn sie wirklich krank sind? Oder kann man eine psychische Erkrankung – zum Beispiel Schizophrenie – auch vortäuschen, um für schuldunfähig erklärt zu werden?

Hundertprozentig ist in der Psychiatrie nicht sehr viel. Aber eine wirkliche Geisteskrankheit, wie man früher sagte – und um die handelt es sich bei der Schizophrenie- kann man nicht vortäuschen. Ich halte viel von der hundert Jahre alten Definition zur Gruppe der Schizophrenien, wonach es sich immer um chronische Erkrankungen handelt. Das vorzutäuschen, geht auf Dauer nicht. Die Leute sind sozial und in ihrem Gefühlsleben eingeschränkt, neigen zu wirklich komisch wirkenden Gedanken. Wenn jemand wirklich Stimmen hört, sieht man das den Leuten nicht selten auch an.

Woran?

Wenn der Patient oder Proband völlig abgelenkt ist. Stellen Sie sich vor, ich höre jetzt Stimmen, habe Angst, dass mich irgendwas bedroht, vielleicht diese Maske hinter mir an der Wand. Dann kann ich mich gar nicht mehr auf Sie konzentrieren, wenngleich ich Sie registriert habe. Ich bin gänzlich gefangen von der Maske, schaue ständig nach hinten. Und wenn die Maske mir jetzt noch verbietet, mit Ihnen zu reden, dann bin ich still. Das wirkt auf den Gesprächspartner bizarr. Die Kunst ist dann, mit dem Probanden überhaupt in ein Gespräch zu kommen. Sie haben ja schon das Beispiel aus der Literatur gebracht und ich zitiere ganz gerne Die Verwandlung von Franz Kafka. In der Geschichte wird sehr eindrucksvoll beschrieben, was in dieser Psychose passiert, wie die Betroffenen, die Umwelt, also die Familie, damit umgehen. Eine sehr eindrucksvolle Schilderung.

Auch Thomas Melle, der an einer bipolaren Störung leidet, hat in seinem aktuellen autobiographischen Buch „Die Welt im Rücken“ beschrieben, wie sich eine psychische Erkrankung anfühlt.

Diese Diagnose ist wieder etwas anders. Menschen mit bipolaren Störungen kennen sehr depressive Phasen und sehr manische Phasen, sind über dem Strich, um es salopp zu sagen. Die sind aber zwischendurch gesund. Und wenn man dann auch über diese Phasen sprechen kann, kann daraus gute Literatur werden. Bei schwer Schizophrenen ist das etwas schwieriger. Die leiden ständig unter irgendwelchen Einflüssen, die sie oft auch gar nicht benennen können. Oder, wenn sie durch die Stimmen Verbote bekommen, auch nicht benennen dürfen.

Sie haben gerade den „Strich“ benannt, über den bipolar gestörte Menschen in manischen Phasen drüber sind. Wie definieren Sie eigentlich den Begriff „normal“?

Ich arbeite mit diesem Begriff sehr ungern. Wenn ich von „normal“ rede, möchte ich wissen: Rede ich von einer statistischen Norm? Von einer ethischen Norm? Oder einer gefühlten? Mit den Begriffen „gesund“ und „krank“ fange ich mehr an. Keiner von uns ist hundertprozentig gesund und niemand hundertprozentig krank. Auch ein schwerkranker Schizophrener kann gesunde Momente erleben. Deshalb ist auch nicht jeder Schizophrene allein deshalb schon schuldunfähig. Es kommt immer darauf an, um was es konkret in der Situation gegangen ist. Unsere Patienten reden natürlich auch gerne von „normal“. Wenn wir dann fragen, was sie darunter verstehen, handeln die Antworten meist von gesellschaftlichen Normen: Familie, Partnerin oder Partner, einen anständigen Job und so weiter. Beim Normbegriff gerät man also schnell in Wertungen. Auch in moralische Wertungen.

Liegt in den gesunden Momenten von schizophren Erkrankten die Chance, einen dauerhaften Heilungserfolg zu erzielen?

Es gibt in der Schizophrenie-Forschung schon seit 60 Jahren die sehr grobe Drittelregel, die da heißt: Ein Drittel der chronisch Psychose-Kranken wird relativ gesund. Ein Drittel bleibt behindert – das ist der sozialrechtlich korrekte Begriff – und ein Drittel der Patienten bleibt richtig krank. Letztere sind dann die, mit denen Sie es in einem Heim, aber auch im Maßregelvollzug zu tun haben.

Oft geht es in Gerichtsverhandlungen um die Frage, wo der Täter seine Strafe absitzen muss, im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Was ist eigentlich besser?

Das deutsche und auch andere Rechtssysteme gehen davon aus: Wenn der Mensch verantwortlich ist, für das was er getan hat, ist der Justizvollzug die adäquate Stätte der Strafe. Ist jemand so schwer krank, dass er schuldunfähig ist, wird er auch nicht bestraft. Das führt immer mal wieder zu Irritationen in der Gesellschaft. Aber um es mit den lateinischen Worten des Strafrechts zu sagen: nulla poena sine culpa. Niemand darf für eine Tat bestraft werden, wenn ihn keine Schuld trifft. Und wenn wir hinten und vorne nichts dafür können aufgrund einer Erkrankung oder eines Ausnahmezustands und chronisch krank und gefährlich sind, dann erfolgt die Unterbringung im Maßregelvollzug zur Sicherung und Besserung.

Zur Besserung seiner selbst und zur Sicherung vor anderen?

Ja, zur Sicherung der Gesellschaft. Das ist der Begriff der Allgemeingefährlichkeit, wie er im Strafgesetzbuch steht. Und wenn der Betroffene gesünder wird durch unsere Behandlung, ist er auch nicht mehr gefährlich. So funktioniert die Philosophie.

Im Maßregelvollzug sitzen nicht nur psychisch kranke Menschen, sondern auch viele Drogenabhängige.

Das ist etwas anderes, ja. Unterbringungen wegen einer Drogenerkrankung setzen nicht die Schuldunfähigkeit voraus, sondern den Hang. Also ein Abhängigkeit und eine daraus resultierende Gefährlichkeit. Das sind Diskussionen, die in den Einzelfällen strittig sind und die auch in der Fachöffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert werden.

Wie positionieren Sie sich in dieser Diskussion?

Wir im ZfP sind der Meinung, dass der Gesetzgeber eher strenge Vorgaben geschaffen hat für die Entziehungsanstalten, wie es heißt. Weil viele Patienten denken, die Psychiatrie könnte angenehmer sein und man könne dort Zeit sparen, kommt es zu oftmals zu Fehleinweisungen. Da kommen bundesweit Menschen in eine Entziehungsanstalt, die von ihrer ganzen Lebensgeschichte oder Problematik besser in ein Gefängnis passen.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, würde ich auch lieber hierher wollen. Im besten Fall gibt es viel Freigang und Leute zum quatschen…

Ja, das Quatschen ist nur genau der Punkt, warum viele dann doch lieber in ein Gefängnis wollen. In unseren Behandlungen muss man sich intensiv mit sich auseinandersetzen. Wir sind nicht zufrieden, wenn jemand Sport treibt und ein bisschen Arbeitstherapie macht. Unseren gesetzlichen Auftrag fassen wir so auf, dass der Patient durch die Behandlung etwas bei sich verändern muss. Das heißt, er muss sich mit seiner Lebensgeschichte auseinandersetzen. Dabei geht es oft um Traumatisierungen und Gewalterfahrungen, in beiden Richtungen – also erlitten wie auch zugefügt. Und das ist doch für einige so anstrengend, dass immer wieder Anträge von Patienten bei uns auf dem Tisch liegen, die lieber ins Gefängnis wollen. Denn da hat man, was das betrifft, eher seine Ruhe. Zwar kann man auch dort psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, man muss aber nicht. Im Gefängnis haben Sie auch mehr Freiheiten, was Medien betrifft. Wir sind da sehr restriktiv. Fernsehen gibt es nur zu bestimmten Zeiten im Gruppenraum, Internet nur außerhalb. Die Hausordnungen im Maßregelvollzug in den baden-württembergischen Einrichtungen gehen davon aus, dass die Therapie auch mit einer gewissen Abstinenz der Medien statt zu finden hat.
 

Neben den sogenannten intelligenzgeminderten Straftätern leiden viele Ihrer Patienten im Maßregelvollzug unter schweren Psychosen oder massiven Persönlichkeitsstörungen. Welche Therapieformen praktizieren Sie im ZfP?

Zunächst mal sind wir schon mittendrin. Ein gewaltfreies Milieu an sich ist wichtig, hinzu kommt eine weitgehende Selbstverantwortung. Die Patienten machen Küchendienste, kümmern sich um ihre Wäsche, lernen oft zum ersten Mal in ihrem Leben ein bisschen Kochen und Bügeln. Gewaltfreiheit äußert sich auch in der Sprache, wenn wir vermitteln: Es geht um Polizisten, nicht um Bullen. Bei der Psychotherapie im engeren Sinn ist unser Schwerpunkt Psychoanalyse und Gruppentherapie, zum Teil hochfrequent, also vier Mal in der Woche. Es gibt Einzelpsychotherapie je nach Indikation, Psychopharmakotherapie und die Pflege spielt eine wichtige Rolle. Jeder Patient hat einen akademischen Therapeuten und zwei Mitarbeitende des Pflegedienstes als Bezugspersonen. Sozialarbeiter sind im Team integriert, da es ja immer wieder auch um Schuldenklärung und Schuldensanierung geht. Arbeit und Bildung spielen eine große Rolle in der Therapie. Wir haben im Maßregelvollzug eine Tendenz zu eher schlechten Schulabschlüssen oder gar keinen. Eine kürzlich eingestellte Lehrerin macht Alphabetisierungsprogramme, gibt aber auch Patienten Nachhilfe in Deutsch als Fremdsprache oder wenn es um Schulqualifikationen geht. Und letztlich spielt auch Freizeit eine Rolle. Wir legen Wert auf Gruppensport, um Sozialkompetenz zu fördern, aber natürlich auch die körperliche Fitness.
 

Wie setzen sich die Patienten in der Gruppentherapie zusammen?

Wir achten darauf, dass in den Gruppentherapien die Unterschiede in den Affekt- und Denkstörungen nicht zu groß sind. Schwer intelligenzgeminderte Patienten passen nicht in Gruppen, in denen beispielsweise Demenzkranke sitzen. Wir haben eine Gruppe schwerpunktmäßig für Psychose-Kranke, für Abhängige und Persönlichkeitsgestörte.

Unter welchen Voraussetzungen dürfen Ihre Patienten im Maßregelvollzug allein oder in Begleitung die Psychiatrie verlassen?

Wenn Patienten ohne uns die Einrichtung verlassen wollen, muss die Staatsanwaltschaft das genehmigen. Wir beantragen das, wenn wir ausreichend lange mit den Patienten hier auf dem Gelände unterwegs waren, in Begleitung oder auch mal alleine. Und das alles gut funktioniert hat.

Und wenn doch mal jemand nicht mehr zurückkommt?

Dann wird eine Fahndung ausgelöst. Wobei die meisten freiwillig zurückkommen.

Was sind die häufigsten Fluchtgründe?

Das ist sehr unterschiedlich. Wir haben schwer Psychose-Kranke, die einfach die Zeit falsch einschätzen, die in irgendwelchen Zuständen in den Wald gehen, dann aber auch wieder zurückkommen.

Würde eine Flucht nochmals bestraft werden?

Das kommt darauf an. Strafbar ist es nur, wenn jemand wirklich ausbrechen sollte.
 

Wie sind die geschlossenen Stationen gesichert?

Es gibt auf den vier Stationen des Maßregelvollzugs einen unterschiedlichen Sicherungsgrad. Auf der Aufnahmestation haben wir eine Schleusenfunktion, das heißt, wenn die eine Tür auf ist, bleibt die andere geschlossen. Dann gibt es um das Gelände Zäune. Die sind der Faktor Zeit. Die Patienten gehen immer in Begleitung nach draußen. Wenn da jemand anfängt zu klettern, sieht man das.

Immer wieder hört man von solchen, die gar nicht im Maßregelvollzug sitzen sollten. Wie groß ist das Risiko für Fehlgutachten – Stichwort Gustl Mollath?

Ja, der Fall Gustl Mollath. Der Anwalt von Mollath, Gerhard Strate, hat ja alles ins Internet gestellt. Sie können den Fall online sozusagen auf mehreren 100 Seiten mit allen Stellungnahmen und Gutachten nachlesen. Ich frage mich, was Herr Strate zum Datenschutz denkt, aber das ist ein anderes Kapitel. Den Fall selbst sehe ich so: Das sind Verkettungen verschiedener Dinge. Dass mal ein Gutachten eine falsche Einschätzung hat, kann passieren. Dann kann man ein zweites benennen. Auch Richter können sich irren. Wenn dann Probanden nicht mitmachen, ist das auch ein Problem. Dann ist die Frage, ob wir Psychiater Gutachten nach Aktenlage erstatten, was wird dürfen. Wie valide sind die dann? Und wie gehen die Richter damit um? Das sind die verschiedenen Ebenen. Aus meiner Praxis würde ich sagen: Wirklich deutliche Fehlgutachten, bei denen die Diagnose völlig falsch war, habe ich nie erlebt. Stattdessen machen wir immer wieder die Erfahrung, dass man im Lauf von Behandlungen, wenn wir die Patienten näher kennen, bestimmte Diagnosen anders sieht. Da unterscheidet sich die forensische Behandlung nicht von der internistischen Behandlung draußen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Naja, die berühmte Schizophrenie. Wenn wir die Patienten länger kennen, würden wir oft eher bescheiden von psychotischen Krisen reden. Wir haben gerade einen Patienten mit einer bipolaren Störung. Einmal galt er als schizo-affektiv, mal eher als bipolar. Die Abgrenzungen sind schwierig. Ich persönlich äußere mich auch in Gutachten immer offen und halte mich im Zweifel mit klaren Abgrenzungen eher bedeckt. Manche Psychiater legen sich da eher fest.

Manche versuchen, Verbrechen vor allem aus den Umständen heraus zu erklären; andere meinen, der Schlüssel dazu liege im Täter selbst, sozusagen in dessen intrinsischer Bosheit. Was glauben Sie?

Ich bin Psychoanalytiker, weil die Psychoanalyse diesbezüglich Dinge sagt, die mir einleuchten. Es ist immer beides. Unsere Biologie legt vieles fest, und so, wie wir sind, als Frauen oder Männer, sind wir in der Lage, schreckliche Dinge zu tun. Wenn Sie die ersten vier Menschen im Alten Testament anschauen: Die waren auch nicht nett. Die andere Seite ist: Wenn sie die weltweit unterschiedlichen Mord- und Vergewaltigungsraten anschauen, wird deutlich: Sehr viel liegt an den sozio-ökonomischen Umständen.
 

Das heißt, es muss beides zusammenkommen, um Böses zu tun? Die innere Bosheit und die Umstände?

Sigmund Freud spricht von Konstitution, wenn er von der biologischen Komponente redet. Ansonsten spricht er von der Entwicklung des Menschen. Wie wächst jemand auf, welche Erfahrung macht jemand als junger Mensch? Das alles spielt eine Rolle. Deutschland hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich mehr Gewaltdelikte als heute. Sowohl Tötungen als auch Sexualdelikte. Die Leute waren verarmt, die sozialen Gegensätze waren extrem, dementsprechend hoch war die Kriminalitätsbelastung. Die Genetik hat sich seit dieser Zeit nicht verändert. Sondern die Umstände.

Gibt es denn dann so etwas wie Schuld?

Ja, die gibt es, und zwar nicht nur eine moralische. Das Strafrecht geht davon aus, dass es Verantwortung und Schuld gibt. Wenn Sie zu schnell fahren, hat der Staat das Recht, Sie zu bestrafen, weil sie schuld daran sind. Wenn jemand krank oder intoxikiert wirkt, ist meine Aufgabe als Gutachter zu prüfen, ob die Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben war. Und zwar im Einzelfall.

Passt jegliches Verhalten in Ihre wissenschaftliche Methodik hinein – oder gibt es auch Einzelfälle, die Sie an den Rand Ihres psychologischen Erklärungsvermögens bringen?

Es gibt immer wieder herausfordernde Situationen und Fragestellungen. Das ist auch das Spannende an meinem Beruf. Erklären kann man Vieles. Aber es gibt schreckliche Delikte, die schwer zu verstehen sind.
 

Wie machen Sie Feierabend, wenn es zu solchen Situationen kommt?

Ich verbringe meinen Beruf damit, mit Menschen zusammen zu sein, die schreckliche Dinge getan haben. 80 Prozent der Erwachsenen schauen Krimis. Im Feierabend brauche ich keine entsprechenden Filme. Aber es ist interessant zu sehen, dass die Themen, die mich und meine Mitarbeiter hier beschäftigen, die Gesellschaft insgesamt bewegen. Und Kriminalität ist ja nicht auf die Forensik beschränkt. Denken Sie beispielsweise an Wirtschaftskriminalität. Diese Leute sehen wir hier nicht. Und die schädigen die Gesellschaft oft viel mehr als unsere Patienten hier.

 

Zur Person

Prof. Dr. med. Klaus Hoffmann ist Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie am Zentrum für Psychiatrie Reichenau (ZfP). Seit 1992 koordiniert der Medizinische Direktor einen Fort- und Weiterbildungsverbund mit dem Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz, der Abteilung Psychotherapeutische Neurologie der Kliniken Schmieder in Konstanz und seit 2016 mit den Psychiatrischen Diensten Thurgau. Der Medizinische Direktor ist Befugter für die Weiterbildung zum Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie des gesamten ZfP Reichenau sowie für die Weiterbildung im Schwerpunkt Forensische Psychiatrie. Seit 2002 leitet Hoffmann gemeinsam mit Dr. Hedi Haffner das Institut für Psychoanalyse, Zürich und Kreuzlingen (IfP). Hoffmann schreibt regelmäßig in Fachzeitschriften, unter anderem über das Thema Recht und Psychiatrie.