Nach gut zwei Stunden schmerzen Gesäß und Gelenke gewaltig. „Du hast halt kein Sitzkissen“, sagt Vampy und lacht laut. Markus, der selbst nur eine dünne Jacke als Unterlage hat, zeigt Verständnis für den rostigen Reporter. „Keine Angst, mir tun die Glieder auch ziemlich weh.“ Vampy und Markus sind gute Freunde. Die 34-Jährige und der 30-Jährige kennen sich seit vielen Jahren.
Ein WG-Zimmer und ein Mini-Haus mit 2,5 Quadratmetern
Markus wurde schon vor längerer Zeit im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme zur Abwendung von Obdachlosigkeit, wie es in Beamtendeutsch heißt, ein Zimmer in einer Konstanzer Wohngemeinschaft zugewiesen. Vampy ist in Cuxhaven gemeldet, hat in Darmstadt ein Tiny House, also ein Mini-Haus auf Rädern mit 2,5 Quadratmetern, und verbringt einen Teil des Sommers am Bodensee.
Die zwei sitzen in der Hussenstraße und hoffen, dass ihnen etwas Geld in den Becher geworfen wird. Das Klimpern ist jedoch nur selten zu vernehmen. „Im Winter sind die Menschen spendabler“, sagt Markus. „Da wirken wir wahrscheinlich bemitleidenswerter, wenn es kalt ist.“ Im Sommer seien zu viele Touristen unterwegs „und die geben sehr selten etwas“. Es sei überall das gleiche: „Diejenigen, die selbst am wenigsten haben, geben am meisten. Aber wir wollen uns nicht beschweren. Jede Hilfe ist super.“

Markus kam vor fünf Jahren der Liebe wegen nach Konstanz. Zuvor war er im Frankenland, wo er auch aufgewachsen ist. Er lebt von Hartz IV, rund 420 Euro im Monat müssen ausreichen. „So zwischen 20 und 30 Euro kommen pro Woche beim Schnorren noch dazu.“ Betteln darf er nicht sagen, „denn das ist ja verboten. Zumindest das aggressive Betteln. Ich darf also die Menschen nicht direkt um Geld fragen.“
Auffallend sind seine Zähne, besser gesagt: das, was davon noch übrig ist. „Das ist eine Folge von jahrelangem Drogenkonsum“, erklärt er und zeigt auf die Fragmente in seinem Mund. „Außerdem habe ich sie früher ewig lange nicht geputzt.“

Das hat sich heute geändert. Vielleicht ist sein Vorhaben, seine Zähne komplett erneuern zu lassen, so etwas wie ein Aufbruch in eine neues Leben. „Das kann man so ausdrücken“, erzählt er nicht ohne Stolz in der Stimme. „Die Zähne waren mein großes Problem. 24 Stunden lang Zahnschmerzen zu haben, macht dich fertig. Du kannst gar nicht mehr richtig essen. Oh Mann.“

Er ließ sich die schlimmsten ziehen, die Behandlung läuft noch. Die Versicherung zahlt einen Teil, er einen Teil, barmherzige Ärzte drücken beim Rest die Augen zu. Stück für Stück möchte er wieder ein weißes Lächeln erreichen. „Die, die ich jetzt noch habe, putze ich achtmal am Tag“, versichert er. „Das ist ein gutes Gefühl.“ Parallel würde er gerne wieder arbeiten, die Vergangenheit hinter sich lassen. „Ich nehme an einem Drogenersatzprogramm teil“, sagt er. „Das soll nur der Anfang sein.“

Seine Geschichte ist so traurig wie schlimm, wie er berichtet: Zur Familie in Franken hat er keinen Kontakt mehr. Früh riss er von daheim aus. Sein Leben schaukelte zwischen Kleinkriminalität, Drogenkonsum und Gefängnis hin und her. „Ich war ein Rebell und wollte mir nichts sagen lassen“, sagt er rückblickend.
Jede Menge Tattoos. Nicht alle professionell gestochen
Seine Zukunft? „Ich muss jetzt erst einmal mit mir klar kommen, meine Depressionen bekämpfen. So gerne würde ich arbeiten, in einer kleinen Wohnung leben und aus dem jetzigen Trott herausbrechen.“ Er hat jede Menge Tattoos – offenbar nicht alle professionell gestochen. „Aber ich stehe dazu“, sagt er lächelnd.
Vampy hakt in diesem Moment ein. „Das mit der Arbeit liegt nur an Dir, Markus“, sagt sie zu ihrem guten Freund. „Wenn du das willst, dann schaffst du das auch.“ Sie selbst hat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie der 30-Jährige.
Der jahrelange Drogenkonsum und das Leben auf der Straße haben Spuren hinterlassen. Sie hat keine Zähne mehr im Mund. „Ich hatte vier Zysten im Kiefer“, erzählt sie. „Als die rausoperiert wurden, haben sie mir alle Zähne gezogen.“
Tiefe Angst vor dem Gang zum Zahnarzt
Mehrere Zahnarzt-Termine hat sie seither verstreichen lassen. „Ich habe tiefsitzende Angstzustände und schaffe es einfach nicht“, sagt sie. „Ich weiß, dass das blöd ist. Aber ich schaffe es nicht, diese Angst zu überwinden. Ich schaffe es einfach nicht.“ Sie nennt sich Vampy, „weil ich der einzige zahnlose Vampir der Welt bin“.

Vampy ist in Ostberlin geboren. „Meine Mutter war Alkoholikerin, mein Vater wollte sie totschlagen. Ich kam in ein Heim in der DDR. Keine Ahnung, was mit meinen Eltern passiert ist.“ Mit zehn Jahren sei sie aus dem Heim ausgerissen und habe sich fortan als Obdachlose durchgeschlagen. „Meine Heimat war der Bahnhof Zoo“, erzählt sie. „Wir sind die Generation eins nach Christiane F.„
Freundin von Christiane F.
Die Hauptperson des auf Tatsachen beruhenden Buches „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wurde zur Symbolfigur der Drogenszene in den 70er Jahren. Im Alter von zwölf Jahren begann Christiane Felscherinow, wie sie richtig heißt, Drogen zu konsumieren. Mit 14 Jahren war sie heroinabhängig und prostituierte sich auf dem Kinderstrich an der Kurfürstenstraße und am Bahnhof Zoo. „Ich bin mit ihr befreundet“, sagt Vampy. „Genau wie sie früher torkele ich so durchs Leben.“

Auch die 34-Jährige würde gerne ein geregeltes Leben mit festem Wohnsitz und einem Job führen. „Ein Dach über dem Kopf und eine Beschäftigung – das wär‘s“, sagt sie. „Ich sehne mich nach einer Struktur.“ Derzeit wartet sie auf einen Platz für eine Langzeittherapie, um langfristig von Tabletten und Heroin wegzukommen. „Im Moment bis ich zwar clean“, erklärt sie. „Aber ich bin immer noch im Kreislauf. Noch brauche ich Substanzen, um mein Hirn abzuschalten.“
Sie braucht nach eigenen Angaben nicht viel, um glücklich zu sein: „Ein gutes Buch, meine Hunde, eine Kugel Eis und den Blick auf den See“, sagt sie. Hexe und Nikita, die beiden Vierbeiner, blicken kurz auf und wedeln zustimmend mit dem Schwanz. „Es wäre toll, wenn ich eine Chance auf dem Markt erhalten würde. Aber ich glaube nicht daran.“
Vampy und Markus. Zwei junge Menschen am Rande unserer Gesellschaft. Den weiten und anstrengenden Sprung zurück in die Mitte würden sie beide gerne meistern. Was sind im Vergleich dazu schon Schmerzen in Gesäß und Gelenken.