Der Mann, der da im olivgrünen Parka im Landgericht Konstanz sitzt, ist ein Entwurzelter. Er hat nichts und niemanden, aber er glaubt, dass er durch spezielle Zellorganellen unter seiner kahlen Schädeldecke hypnotische Wellen von Menschen empfangen und den Geist anderer in seinem Kopf zusammensetzen kann.

„Wenn das Gericht sich entscheidet, mich in ein geschlossenes psychiatrisches Krankenhaus zu bringen, wäre das für mich ein Gewinn“, sagt er. Doch dieser Wunsch wird dem Whiskyräuber von der Eni-Tankstelle am Ende des Prozesses nicht erfüllt. Ebenso wenig wie die Hoffnung auf eine sofortige Abschiebung. Der 37-Jährige, der mit 13 in Litauen ins Kinderheim kam und jahrelang heimatlos durch Europa zog, muss im Gefängnis bleiben und sieht einem ungewissen Schicksal entgegen.

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Ende 2022/Anfang 2023 hatte der Vorbestrafte in drei Fällen in Konstanz sein Pfefferspray gezückt und damit Menschen leicht verletzt. Deshalb steht er nun vor den Richtern im großen Sitzungssaal. Der bekannteste Fall, die Tat in der Nacht zum 9. Januar 2023, begann mit einem Zufall. Traf er doch an der Tankstelle, in deren Umfeld er sich herumdrückte, einen alten Knastbekannten aus der 800 Kilometer entfernten Justizvollzugsanstalt in Hamburg wieder.

Er habe mit ihm geplaudert und ihn gefragt, ob er ihm nicht ein paar Sachen besorgen könne, erzählt der Angeklagte, der Litauisch und Englisch spricht. Unter anderem sei es um LSD gegangen. Mit kleinen Dosen der Droge, so glaubt er, ließen sich seine Probleme behandeln.

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Der LSD-Lieferant verschwindet einfach

Im Lauf der Nacht kauft er sich fünf kleine Flaschen Bier bei dem Tankstellen-Angestellten, dem er später Reizgas ins Gesicht sprühen wird, und trinkt sie draußen vor dem Shop. Und er übergibt dem Bekannten sein gesamtes Geld – 30 Franken und 50 Euro. Der macht sich irgendwann auf den Weg, kommt aber nicht wieder. Er fühlt sich betrogen. Zudem glaubt er, dass sich der Kassierer im Gespräch mit einem anderen über ihn lustig macht.

Schließlich stellt er sich im Verkaufsraum auffällig unauffällig vor das Spirituosen-Regal, wie die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen, greift sich zwei Flaschen Jack Daniels (“als Entschädigung“) und spaziert wieder aus dem Tankstellen-Shop heraus. Der Verkäufer rennt ihm hinterher. Als er den Dieb fast erreicht hat, bekommt er zwei Ladungen Pfefferspray ab.

(Archivbild von 2023) Hier im Bereich hinter der Preis-Anzeige sprühte der Whisky-Räuber dem Tankstellen-Mitarbeiter Reizgas ins Gesicht.
(Archivbild von 2023) Hier im Bereich hinter der Preis-Anzeige sprühte der Whisky-Räuber dem Tankstellen-Mitarbeiter Reizgas ins Gesicht. | Bild: Sven Frommhold

Lange Beschwerden hatte er wegen der Reizgas-Attacke jedoch nicht, sagt der 41-jährige Mitarbeiter vor Gericht. Er habe damals weitergearbeitet – „muss ja“. Enttäuscht sei er gewesen, erzählt er, doch wirklich gram ist er dem Angeklagten offenbar nicht. Als sich der Litauer im Gerichtssaal bei ihm entschuldigt, will auch der Zeuge loswerden, dass ihm die Situation unangenehm ist: „Sorry, aber ich muss hier die Wahrheit sagen.“ Beim Hinausgehen wünscht er ihm, er möge „einen guten Weg nehmen.“

Bereits am 22. Dezember hatte der Angeklagte erstmals das Spray eingesetzt – im Rewe im Industriegebiet. Auch von diesem Vorfall gibt es Videos. Zunächst packt der großgewachsene Mann in einem Gang Waren in seinen Rucksack, um sie zu stehlen. Weil er sich beobachtet fühlt, stellt er sie dann jedoch auf dem Boden ab.

(Archivbild von 2023) Die erste Tat fand im Rewe-Markt im Industriegebiet statt.
(Archivbild von 2023) Die erste Tat fand im Rewe-Markt im Industriegebiet statt. | Bild: Oliver Hanser

Kurz vor dem Ausgang erwarten ihn der Marktleiter und ein Mitarbeiter und entreißen ihm rabiat den Rucksack. Weil der leer ist, haben sie keine Handhabe und verweisen ihn des Hauses. Im Hinausgehen sprüht der gescheiterte Dieb in Richtung der Beschäftigten. Man sieht nicht die eigentliche Tat, aber die Reaktion des Marktleiters und seines Mitarbeiters. Auch ein Kunde läuft in den Sprühnebel hinein und weicht zurück.

Die falschen Blicke im Roten Arnold

Am 15. Januar schließlich der dritte Fall. An jenem Abend im Bus der Linie 1 in Richtung Allmannsdorf fühlt er sich von einem Ehepaar belästigt, das ihn grimmig anschaut. Zumindest empfindet er das so. Seine Reaktion tue ihm im Nachhinein „sehr, sehr leid“, sagt er. Denn als die beiden Konstanzer, die sich ebenfalls bedroht fühlen, aussteigen und Richtung Penny-Markt auf die andere Straßenseite gehen, folgt er ihnen und sprüht sie von hinten mit seinem Pfefferspray an.

(Archivbild von 2023) Im Bereich vor dem Penny in Allmannsdorf kam es zu dem Reizgas-Angriff auf die Eheleute.
(Archivbild von 2023) Im Bereich vor dem Penny in Allmannsdorf kam es zu dem Reizgas-Angriff auf die Eheleute. | Bild: Oliver Hanser

Nach Meinung des Sachverständigen Aksel Hansen vom Zentrum für Psychiatrie Reichenau ist das die einzige Tat, die er beging, weil er krank ist. Der Angeklagte leide an einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis, sagt er. Für die anderen Fälle sei das aber nicht maßgeblich gewesen, vielmehr habe er da aus Gewohnheit zu stehlen versucht, weil er nicht genug Geld hat. Eine Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie rechtfertige das nicht.

Genauso sieht das am Ende das Gericht unter Vorsitz von Joachim Dospil, der im Prozess auch das deutsche und litauische Strafregister des 37-Jährigen verlesen hatte. Zusammen enthalten die Auszüge 17 Eintragungen. Sechs der Verurteilungen stammen aus Dänemark, wo er wohl eine Art Ein-Mann-Firma für Abrissarbeiten zu betreiben versuchte. Fast immer geht es um Diebstahl oder Schwarzfahren, Gewalt spielt so gut wie keine Rolle.

(Archivbild von 2023) Gutachter Aksel Hansen sieht nur bei einer der drei angeklagten Taten einen Zusammenhang mit der Krankheit des ...
(Archivbild von 2023) Gutachter Aksel Hansen sieht nur bei einer der drei angeklagten Taten einen Zusammenhang mit der Krankheit des Angeklagten. | Bild: Oskar Paul

Gefängnis, aber keine Psychiatrie

Damit fehlt es auch an einem Hinweis darauf, dass er wegen seiner Erkrankung weiterhin schwere Straftaten begehen und dabei andere Menschen erheblich körperlich verletzen würde. Die Kammer verurteilt ihn deshalb wegen besonders schwerem räuberischen Diebstahl und gefährlicher Körperverletzung in minder schweren Fällen zu einer normalen Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.

(Archivbild) Der Vorsitzende Richter Joachim Dospil, hier in einem früheren Prozess, und seine Kammer sahen nicht genügend Hinweise ...
(Archivbild) Der Vorsitzende Richter Joachim Dospil, hier in einem früheren Prozess, und seine Kammer sahen nicht genügend Hinweise darauf, dass der Mann in einer geschlossenen Anstalt untergebracht werden sollte – und vor allem: dürfte. | Bild: Silas Stein | dpa

Er habe nun zwei Möglichkeiten, wendet sich Dospil am Ende an den Angeklagten. Erstens: Abschiebung nach der Hälfte seiner Strafe. Zweitens: In Deutschland bleiben, eine psychiatrische Behandlung im Gefängnis in Anspruch nehmen, Bewährung nach zwei Dritteln der Strafe beantragen und dann in festen Strukturen neu anfangen.

„Das sind die Zukunftsperspektiven, die wir Ihnen von hier aus bieten können“, sagt der Vorsitzende Richter. Da seine Abschiebehaft in Schweden – dort war der Whiskyräuber aufgrund eines europäischen Haftbefehls Ende Mai 2023 festgenommen worden – genauso angerechnet wird wie die folgende Untersuchungshaft, könnte er in einem halben Jahr in sein Heimatland geflogen werden. Dann wären 15 der 30 Monate um.

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Und danach? „Ich sehe meinen Weg, wenn ich aus dem Gefängnis herauskomme, genau gleich wie bisher, weil ich nichts habe“, hatte der 37-Jährige zu Beginn gesagt. „Ich habe keine Möglichkeiten und deshalb keine Zukunft.“