Herr Köke, wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal Drogen genommen haben?
Am 1. März 1994. In eine kapitale Vene [klopft sich auf den Oberschenkel] in einer Frankfurter U-Bahn-Unterführung. Das war ein wehmütiges Abschiedsfest, obwohl mir nicht bewusst war, dass es mein letztes Mal sein würde. Ich habe mir für 700 Mark Heroin und Kokain geholt und habe mir meinen Cocktail gemischt. Ich hatte endlich wieder eine Vene. Die Euphorie vom Kokain, die Geborgenheit vom Heroin, das war schön.

Warum haben Sie aufgehört?
Am nächsten Tag wollte ich aufstehen. Ich saß auf der Bettkante und konnte mir nicht mal meine Hose anziehen. Das war ein Zustand, den ich kaum beschreiben kann. Ich hab‘s wirklich vor Augen gehabt: hopp oder top. Leben oder sterben. Das habe ich tief fühlen müssen und an dem Tag tief fühlen dürfen. Seitdem ist nichts mehr verrutscht. Aber so gar nichts.
Wie haben Sie das geschafft?
Ich habe damals schon in einer WG für Cleane gelebt und eine Umschulung zum Bürokaufmann gemacht. Ich habe gedacht: Meine einzige Chance, clean zu werden, ist zum Bünzli, zum Spießer zu werden. Ich habe auch schon Meetings von Narcotics Anonymous* besucht, wo sich Süchtige gegenseitig helfen. Da fließt viel Herzblut, das ist eine Notgemeinschaft, aber auch eine raue Liebe.
Ich hatte sogar einen Sponsor, einen Suchtkranken, der seit neun Jahren clean war. Trotzdem bin ich immer wieder nach Frankfurt gefahren. Wenn ich wieder einen Rückfall hatte, habe ich meinen Sponsor angerufen. Der hat immer gesagt: „Mensch Frank, das nächste Mal rufst du früher an.“ Und ab dem Tag habe ich ihn früher angerufen.
Was hat er gesagt?
Er hat mir erzählt, was er gemacht hat. Und ich habe das eins zu eins übertragen. Ich habe mir einen Spruch von einer Kirchenwand abgeschrieben. Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und sei des Friedens eingedenk. Ein toller Text. Und wenn ich Suchtdruck gekriegt habe, habe ich den Spruch runter gerasselt. Ich habe versucht, durch die Nase ein- und auszuatmen. Ich bin auf den Innenseiten meiner Füße gelaufen.
Ich habe ein Fishermen‘s Friend gelutscht und eine Kippe geraucht. Das konnte ruhig zwanghaft sein. Ich bin am Rhein entlang spaziert, wie ein Roboter. [spricht rhythmisch und monoton] Gehe ruhig und gelassen… Zweimal die Woche bin ich in Meetings und habe mit meinem Sponsor (Anm.d.Red.: eine Art Mentor) telefoniert. Damit habe ich überlebt.
Gibt es den einen Weg, clean zu werden?
Für mich war es dieser Weg.

Gilt das auch für andere?
Nicht unbedingt. Ich habe lange gedacht, dass ich Leute bekehren muss. Aber das geht nicht. Gott sei Dank. Ich darf mich heute vielen anderen Wegen öffnen.
Hat der Druck nachgelassen?
Ich habe meinen Sponsor einmal gefragt: „Wie lange geht das noch?“ Er meinte: „Ach fünf Jahre kannst du locker rechnen, dann bist du aus dem Gröbsten raus.“ [lacht] Es dauert. Da hat man was fürs Leben.
Also gibt es keine Heilung.
Früher hieß es immer: Einmal süchtig, immer süchtig. Das war stigmatisierend. Sucht ist eine chronische Krankheit, aber ich bin so nah dran am Leben eines Nicht-Süchtigen und ich lasse mich nicht mehr stigmatisieren. Schon lange nicht mehr.
Wie bleibt man 29 Jahre lang clean?
Indem man sich gut um sich kümmert. Wenn ich mich heute gut um mich kümmere, dann kann ich das jeden Tag, weil jeden Tag ein Heute sein wird. Aber wenn ich das nur ein bisschen schleifen lasse, dann ist die Sucht bei mir.
Auch nach so langer Zeit noch?
Ich arbeite inzwischen mit Suchtkranken. Auf meiner Arbeitsstelle habe ich mal ein Briefchen gefunden mit Heroin. Ich war im Aufruhr. Da war ich gar nicht drauf gefasst. Das sollte man nicht meinen, nach so vielen Jahren. Ich bin zu meinem Chef und habe gesagt: „Schaff das Zeug weg!“
Macht Ihnen das Angst?
Das sind Weckrufe. Und ich bin froh, solche Weckrufe zu bekommen. Sie zeigen mir, wo ich herkomme. Ich muss Selbstfürsorge üben, üben, üben. Ich muss in die Meetings gehen. Wenn Leute dort von ihren Rückfällen erzählen, dann habe ich Ohren wie Rhabarberblätter. Um zu hören, was für Fehler ich vermeiden kann. Schiss habe ich gehabt, als ich vor einer OP Schmerzmittel nehmen musste.
Mist…
Es war ein Eiertanz. Ich habe solche Schmerzen gehabt. Aber ich war mit anderen Mitgliedern von Narcotics Anonymous vernetzt. Sie haben gesagt, ich muss ein schwaches Opiat raussuchen, das langsam freigesetzt wird und das sollte ich vorm Schlafengehen nehmen. Ich habe gesagt: Aber dann merke ich ja nicht davon? – „Ja, genau!“, haben sie gesagt [lacht]. Es hat sich angefühlt wie das Treffen mit einer alten Geliebten. Ich habe viel mit meinem Sponsor telefoniert. Ich habe geschrieben, wie ein Weltmeister. Und es ist gut gegangen.
Was ist Sucht?
Alles was mich von mir weg bringt. Was mich betäubt. Was mir Vergessen schenkt. Sucht ist nicht Genuss. Sucht ist nicht Freiheit. Das ist noch so ein altes Stigma: Wenn wir nur genug wollten, dann könnten wir doch. [flüstert] Aber das stimmt einfach nicht.
Aber Sie haben es ja gewollt. Und gekonnt.
Das ist über viele Jahre in mir gekeimt. Und ich wollte eigentlich nicht aufhören. Ich wollte konsumieren. Aber ich wollte auch nicht sterben. Das hat mich veranlasst, den cleanen Weg zu gehen. Und das ist dann nach und nach mehr geworden.
Sprechen Sie sich so nicht die Macht über sich selbst ab?
Ich war auch lange ohnmächtig. Ich habe nicht die Entscheidung gehabt: Nehme ich was – oder nehme ich nichts. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mit einem Freund eine dreiviertel Flasche Rum getrunken. Er hat gebremst, ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Ich habe alles ausprobiert und möglichst viel.
Wir hatten mal eine Flasche Valoron. Ein Schmerzmittel. Wir haben Einheiten auf Zuckerwürfel geträufelt, sind durch den Park marschiert und haben die Zuckerwürfel rein geworfen. Urgh. Ich habe gekotzt im Gehen und weiter konsumiert. Das hat null gejuckt. Das war wie Pinkeln.

So zeichnet sich mein weiterer Weg ab. Schon als ich auf Haschisch war, habe ich aufs Schwabinchen geschielt. Eine Kneipe, wo ich wusste, die machen mit Heroin rum. Und da bin ich hingekommen. Das lief wie auf Schienen, wie vorprogrammiert.
Weisen Sie die Verantwortung von sich?
Nein, weil ich dann Opfer wäre. Ich habe erst später gesehen, wie ich die Fäden gezogen habe. Wie ich mich in Situationen gebracht habe, wo ich wieder konsumieren konnte [lacht]. Das ist wie Rabattmarken sammeln. Für alles, was schlecht läuft, klebt man sich eine Rabattmarke ins Heft. Und wenn das Heft voll ist, klappt man es zu und kann sagen: „Ich hab es ja gewusst und jetzt kann ich konsumieren.“
Sie haben Alkohol, Cannabis, LSD, Medikamente, Heroin und Kokain konsumiert. Vermissen Sie was?
Eigentlich nicht wirklich. Wenn ich ein bisschen zu lange darüber nachdenke, vielleicht das chemische Glücksgefühl. Den Geschmack von Kokain, wenn man abdrückt. Das habe ich im cleanen Leben nicht wirklich erleben können. Aber das tiefe Glück, das ruhige Glück, das ist unersetzlich. Da kommt keine Koks-Euphorie dran.
Wo wären Sie heute, wenn Sie nicht aufgehört hätten?
Tot.
Was hätten Sie verpasst?
Boah. Viel. [schmunzelt] Wärme. Geborgenheit. Familie. Die Geburt meiner Tochter. Ich selbst werden zu dürfen. Das hätte ich verpasst. Das Schöne ist, dass ich heute so einen Frieden habe, dass ich sagen würde: [flüstert] Ich würde es wahrscheinlich wieder ganz genauso machen.
Ja?
Das hat mir viel gegeben. Viel Befreiung. Viel Arznei für meine damals schon geschundene Seele. Mein Vater war alkoholkrank. Cholerisch. Jähzornig. Gewalttätig. Meine Mutter war furchtbar dominant. Ich habe viele Drogen gebraucht, um mich lösen zu können.
Sie haben es gut gemeint und so gut gemacht, wie sie konnten. Ich will die Schuld nicht von mir weisen. Aber ich glaube, Süchtige kommen aus Suchtfamilien. Süchtigen fehlt das Urvertrauen, das Vertrauen, gut und richtig zu sein. Und das hatten meine Eltern auch nicht.

Wussten Sie, dass da was nicht stimmt?
Unbedingt. Ich habe das früh bemerkt, dass ich auf dem Holzweg bin. Dass ich eigentlich was ganz anderes will.
Was?
Ich wollte eigentlich nur ein nettes Mädel, ein schönes Haus mit vielen Tieren und einer großen Cannabisplantage hinterm Haus. Eigentlich ein schöner Traum.
Sie haben ein Haus mit Garten, sind verheiratet und haben eine Tochter. Auch ohne Cannabisplantage – Sie haben Ihren Traum fast erreicht.
Das stimmt. Das vergesse ich oft.
Sind sie zum Bünzli, also zum Spießer, geworden?
[lacht] In gewisser Weise. Aber auf andere Weise bin ich immer noch crazy und so durchgeknallt aufgrund meiner Erfahrung, dass das nicht möglich ist. Ich bin kein Bünzli, der dem anderen keine Scheibe Wurst auf dem Brot gönnt, so nicht. Ich bin immer noch ein Mensch der Extreme, das merke ich beim Kajakfahren und Joggen.
Wenn Sie sagen, dass Süchtige aus Suchtfamilien kommen – machen Sie sich Sorgen um Ihre Tochter?
Sie macht es mega gut. Aber natürlich mache ich mir Sorgen. Als sie zwölf geworden ist, war ich so geflasht, weil‘s bei mir mit zwölf losgegangen ist. Ich hab‘s kaum glauben können, wenn ich heute meine Tochter sehe, wie klein man mit zwölf noch ist. Ich war tief geschockt.
Was würden Sie sagen, wenn Ihre Tochter Ihnen erzählt, dass sie ein Bier getrunken hat?
Ich würde niemals das Ausprobieren reglementieren – außer bei chemischen Drogen, das ist klar. Nicht die Drogen sind das Problem, sondern der Umgang…
[Kökes Tochter kommt auf die Terrasse. Köke gibt ihr einen Kuss. Sie hängt Badeklamotten auf und verschwindet wieder im Wohnzimmer.]
Ich würde natürlich auch über den Stoff sprechen, aber vor allem gucken, wie sie konsumiert. Ich habe ziemlich schnell alleine gekifft, das ist Alarmstufe Rot. Aber wenn sie damit anfangen sollte, dann hat sie es mit mir und meiner Frau nicht leicht [lacht].
Reden Sie mit Ihrer Tochter über die Sucht?
Sie kriegt das immer wieder mit. Sie weiß auch, dass ich in Meetings gehe. Als sie fünf war, hat sie mich gefragt, warum ich kein Bier trinke – so wie die anderen Papas auch. Ich habe ihr gesagt: „Wenn der Papa ein Bier trinkt, dann muss er fünf Bier trinken.“ Und dann hat sie gesagt: „Dann trink doch lieber keins.“ [lacht laut]
Chillen, Party, Sucht – Die Serie
Dieser Text ist Teil von Chillen, Party, Sucht: Vom Erwachsenwerden mit Drogen, einem Themenschwerpunkt des SÜDKURIER. In der nächsten Folge lesen Sie auf SÜDKURIER Online: Frank Köke wollte von den Drogen loskommen, Luna aus Konstanz experimentiert mit ihnen. In ihrer Jugend ritzt sie sich, bis sie das erste Mal LSD nimmt. Können Drogen auch heilen?