„Mein Name ist Pia. Ich bin süchtig“, sagt die Frau in rotem Blümchenkleid und schwarzer Leggins. „Hallo Pia“, antwortet der Stuhlkreis. Juni, Sonntag Abend, ein Quartierszentrum in Zürich. Der Raum ist abgedunkelt, die Betonwände kahl, der Fußboden aus Holz.
In der Mitte des Raums steht ein Tisch, ein gemustertes Tuch liegt darauf. An einem Ständer baumeln bunte Schlüsselanhänger mit römischen Ziffern darauf. Die Mitglieder von Narcotics Anonymous (NA), einer Selbsthilfegruppe für Suchtkranke, erhalten einen Schlüsselanhänger, nachdem sie eine gewisse Zeit ohne Drogen gelebt haben. Auf Pias Schlüsselanhänger steht eine Vier.
Zu Beginn der Sitzung liest sie heute die Schritte vor, die die Mitglieder der NA gehen, um ein Leben ohne Drogen führen zu können. Am Ende sagt sie: „Wir haben die Krankheit Sucht und müssen uns aller Drogen enthalten, um zu genesen.“ Pia ist klein und stark, man sieht, dass sie ins Fitnessstudio geht. Auf ihren Armen prangen Tattoos und alte Narben. Sie ist 23 Jahre alt, suchtkrank und seit vier Jahren clean. Sie hat einen langen Weg hinter sich.
Pia*, die eigentlich anders heißt [* Name von der Redaktion geändert], wächst in Konstanz auf. Und trotz allem, was sie als Kind und Jugendliche erleben musste, möchte sie nicht weg. Als Kind, erzählt sie, sei sie oft bei ihren Großeltern gewesen. Wenn sie an das Haus von Oma und Opa denkt, dann, sagt sie, sei die Wohnung wie zensiert. Da ist das Bad und das Waschbecken, aber an die Dusche kann sie sich nicht erinnern. Auch nicht an das Bett im Schlafzimmer. Aber sie erinnert sich an ihren Opa, an seine Schritte vor der Tür.
Bis heute, sagt sie, bekommt sie Panik, wenn sie nachts Schritte hört. Auch an den Missbrauch kann sich Pia nicht erinnern, nur an einmal, im Wohnzimmer. Aber wie oft und wie lange Pia als kleines Kind sexualisierte Gewalt angetan wird, kann sie heute nicht sagen. Und trotzdem sagt sie über ihren Opa: „Mein Opa war der einzige, der mich Kind sein hat lassen.“
„Ich dachte, ich wäre das Problem.“Pia* (23)
Und wenn sie so etwas über den Mann sagt, der sie missbraucht hat, dann ahnt man, was für eine Kindheit Pia gehabt haben muss. Ihr Vater, erzählt sie, sei unberechenbar gewesen. Sie erzählt von Schreien, Brüllen und Ausrasten, nur Schläge blieben ihr erspart. Als sie das erste Mal in eine Klinik kommt, sagt ihr der Arzt, sie habe die Symptome eines Burnouts. Da, sagt sie, ist sie 14 Jahre alt.
Pia spricht über das alles mit klarer, fester Stimme, sie hakt nach, wenn sie eine Frage nicht versteht, und lacht und scherzt trotz aller Schwere. Doch dann ist sie plötzlich still, fast schüchtern. Ob ihr bewusst gewesen sei, dass ihr Vater sie schlecht behandle? „Nein“, sagt sie leise. „Ich dachte, ich wäre das Problem.“
Nach einer halben Stunde ist Pia auf einmal wie abwesend. „Ich fange an zu dissoziieren“, sagt sie. Dissoziationen, das sind Auflösungszustände, in denen sich Wahrnehmung, Denken und Fühlen trennen. Auch das Erinnern fällt schwer. Dissoziationen sind oft Folge von Traumata. Pia geht kurz aufs Klo. Als sie zurückkommt, packt sie eine kleine Dose aus ihrem Rucksack aus, darin schimmert oranges Pulver.
Sie steckt einen Finger in das Döschen und schiebt ihn unter die Oberlippe. Chili. „Wenn ich abdrifte, muss ich mich wieder spüren.“ Zurück ins Hier und Jetzt, wo sie in der Sonne sitzt und von ihrer ersten Erfahrung mit Drogen spricht. „Ich bin nicht dankbar, dass es die Drogen gab“, sagt Pia. „Aber ich will nicht wissen, wie es ohne sie gewesen wäre.“ Für sie sind die Drogen ein Ausweg aus all dem, dem sie als Kind ausgesetzt ist. Rebellion und Flucht.
„Ich hab‘ alles mitgenommen, was mir vor die Nase gelegt wurde.“Pia* (23)
Wenn Pia trinkt, viel trinkt, bekommt sie nichts mehr mit. Wenn Pia kifft, dann hört das Leben auf „scheiße zu sein“, wie sie sagt. Pia erinnert sich, dass das ganz schön schnell ging, dass sie rasch merkt, dass sie so betäubt besser klarkommt. Ihre Mutter deckt sie, um sie vor ihrem Vater zu schützen. „Das ist der Wahnsinn auf der anderen Seite“, sagt Pia heute.
Dann kommen Partys und Amphetamine dazu. Amphetamine seien nicht ihre Substanz, trotzdem sagt Pia: „Ich hab‘ alles mitgenommen, was mir vor die Nase gelegt wurde.“ Pia konsumiert ohne Hemmungen. Später auch Koks, obwohl sie eigentlich Angst davor hat. Sie erinnert sich an einen Abend in Zürich, als sie mit Freunden feiern will. Sie finden ein Päckchen Koks auf der Straße, sie suchen eine Gasse, wo sie ihre Ruhe haben. „Ich habe fünf Minuten erklärt, warum ich nie Koks nehmen würde“, erinnert sich Pia. „Wir sind angekommen und keine 20 Sekunden später hatte ich eine Line drinnen.“
Für Pia, so scheint es, gibt es kein Stopp. Sie nimmt auch LSD, Ketamin, das sich für Pia anfühlt wie eine Mischung aus LSD und Cannabis, und DMT, das ist eine Substanz, die vom Körper ausgeschüttet wird, wenn man geboren wird, träumt und stirbt.
„Du merkst erst, dass du es nicht kontrollieren kannst, wenn du versuchst, es zu kontrollieren“, sagt Pia. Und das versucht sie lange nicht, obwohl vieles schon in die falsche Richtung läuft. Trotz Schulabschluss hätte sie keine Arbeit gehabt, erzählt sie. Und ihre Eltern hätten sie rausgeschmissen.
„Du merkst erst, dass du es nicht kontrollieren kannst, wenn du versuchst, es zu kontrollieren.“Pia* (23)
„Aber ich mochte es, so zu leben“, sagt sie. Klar, da ist Pia, die Schlimmes in ihrer Kindheit erlebt hat. Die konsumiert, um damit klarzukommen. Aber da ist auch Pia, der Teenager. Die auf Ecstasy feiert, stundenlang mit Freunden auf LSD labert und Sex auf Ketamin hat. „Es war absolute Freiheit“, sagt Pia. „Es war sehr viel schöner als das nüchterne Leben, das ich kannte. Das nüchterne Leben, das ich kannte, war scheiße.“
Erst nach und nach wird auch das Leben auf Drogen scheiße. Sie sei nicht mehr der Mensch gewesen, der sie eigentlich ist, sagt sie. „Ich habe gedealt, geklaut, bin fremd gegangen, war gewalttätig, habe jeden und alles verraten, habe Leute benutzt, war oft nicht mehr liebevoll.“
Das kann man sich heute kaum vorstellen, wenn man Pia kennenlernt, die im Herosé am Ufer des Seerheins sitzt und mit Babystimme zu einer Ente spricht, die am Ufer entlang wackelt. Über die Fahrradbrücke wackelt ein großer Mann in Wanderschuhen Richtung Herosé. Er zieht ein kleines Wägelchen hinter sich her. Er sieht Pia von weitem.
„Hi Pia.“
„Geht‘s gut?“
„Ja.“
Sie unterhalten sich kurz, sie kennen sich von früher. Er sei noch in der „aktiven Sucht“, wie Pia sagt. „Ein netter Mensch.“ Aber: „Er kann nett mit dir reden, weil er ein netter Mensch ist. Oder er redet nett mit dir, weil er dir die Brieftasche rausziehen will. Oder beides.“ Man merkt, dass sie da auch von sich selbst und früher spricht.
„Früher haben sich alle Leute von Konstanz, die süchtig waren, im Herosé getroffen“, sagt Pia. Als jugendliche Emo-Punker beschreibt Pia die Szene, von der sie einmal Teil war, die man heute aber nicht mehr im Herosé trifft. „Wo sind die hin?“, fragt sich Pia. Aber auch sie ist ja nicht mehr da, das Herosé hat sie lange gemieden, um nicht rückfällig zu werden. Heute geht‘s. Wäre sie nicht clean geworden, sagt sie, wäre sie tot. Überdosis oder Suizid.
„Wenn ich ein Kind habe, dann bin ich nicht mehr alleine. Dann habe ich einen Grund zu leben.“Pia* (23)
Mit 19 wird Pia schwanger. Damals, erinnert sie sich, erzählt sie ihren Freunden, es sei ein Versehen gewesen. Das sagt sie auch ihrem Partner. Aber Pia und ihr Partner verhüten schon länger nicht mehr, eigentlich will Pia ein Kind. Sie denkt: „Wenn ich ein Kind habe, dann bin ich nicht mehr alleine. Dann habe ich einen Grund zu leben. Dann höre ich auf Drogen zu nehmen.“
„Dann höre ich auf, Drogen zu nehmen“ – das versucht Pia, als sie schwanger ist. Sie erzählt, dass sie es versucht, aber das sie es nicht schafft. Sie raucht und kifft nur noch, und das auch weniger, aber eben nur weniger. Soll sie das Kind auf die Welt bringen und selbst großziehen? Ihr Umfeld, glaubt sie, sei kein Umfeld, in dem ein Kind aufwachsen sollte. „Das hätte das Kind verkorkst“, sagt sie heute.
Soll sie das Kind dann zur Adoption freigeben? Sie kann die Folgen ihres Konsums nicht abschätzen. Sie erzählt, dass sie in dieser Zeit viel googelt, aufhört zu trinken, nur noch drei Zigaretten am Tag raucht und von Frauen liest, die gegen die Schwangerschaftsübelkeit kiffen. Noch heute merkt man, dass sie mit der Entscheidung hadert, die sie damals trifft. „Ich wollte das Kind so sehr, ich habe das erste Mal seit langem wieder was gefühlt.“
Ihr Partner und ihr Arzt drängen sie zu einer Abtreibung, und irgendwann denkt Pia: „Es ist nicht okay, was ich mache. Dem Kind gegenüber.“ Und Pia treibt ab. Kurz bevor sie die Tablette schluckt, hört sie das Piepsen von Herzmonitoren anderer Mütter Kinder, erzählt sie. Bis heute fühlt sie sich schuldig. „Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wie ich damit leben soll.“
„Ich dachte, es hört alles auf, wenn ich keine Drogen mehr nehme. Aber es fängt alles an.“Pia* (23)
Pia ist an ihrem Tiefpunkt angelangt. „Wenn du dich so auf ein Kind freust, und nicht aufhören kannst, Drogen zu nehmen, dann ist es halt verdammt schwer zu leugnen, dass du ein Drogenproblem hast.“ Sie weiß, dass die Drogen das Problem sind. Sie weiß, dass sie aufhören muss.
Und dann erzählt sie eine Geschichte, die sie gar nicht erzählen mag, weil clean werden, so eigentlich „nie funktioniert“, wie sie sagt. Pia kauft sich Drogen, eine ganze Menge, ein letztes Mal. Anders kommt sie in diesem Moment nicht klar. Noch nicht. „Ich habe Drogen gekauft, konsumiert und dann bin ich clean geworden“, sagt sie. Zweimal wird sie noch rückfällig, erzählt sie. Einmal, nach dem Nachsorgetermin, kratzt sie Cannabisreste aus ihrem Grinder, einer Art Mühle. Ein anderes Mal trinkt sie ein Glas Sekt und Bier.
„Ich dachte, es hört alles auf, wenn ich keine Drogen mehr nehme“, sagt Pia. „Aber es fängt alles an.“ Alles, was sie mit Cannabis und Alkohol, Ketamin und LSD weggedrückt hat, kommt wieder. „Ich war nicht fähig, Beziehungen zu führen. Ich war nicht fähig, Gefühle zu fühlen“, sagt sie. Clean werden, das merkt Pia schnell, ist nicht das Ende ihres Weges, sondern der Anfang. Aber sie muss die Schritte nicht alleine gehen. Pia ist in Therapie, und Pia ist bei den Narcotics Anonymous (NA).
Die NA sind eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die drogensüchtig sind und aufhören wollen. Ihre Mitglieder treffen sich in Meetings, so wie in Zürich. Sie unterstützen sich gegenseitig. Und sie machen „Schrittearbeit“, wie Pia sagt. Die Schritte haben Sie von den Anonymen Alkoholikern übernommen, sie sind in einer sehr alten Sprache verfasst.
„Es ist nicht mehr so, dass ich mich hasse. Ich kann genießen, wer ich bin.“Pia* (23)
Das Wort „Gott“ kommt viermal in den Schritten vor – dabei versteht sich die Selbsthilfegruppe nicht als religiöse Gruppe. Mit dem Wort Gott ist für NA eine höhere Macht gemeint – eine spirituelle Macht, unter der sich alle Mitglieder etwas jeweils Eigenes vorstellen können. So heißt es im zweiten Schritt etwa: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, unsere geistige Gesundheit wiederherstellen kann.“ Am Anfang, gibt Pia lachend zu, habe sie damit gehadert. Heute stört sie sich nicht mehr so daran. Sie ist seit vier Jahren clean, auch wegen der Schritte.
Im Meeting in Zürich geht es an diesem Tag im Juni um den sechsten Schritt. Der sechste Schritt heißt: „Wir waren vorbehaltlos bereit, alle diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.“ Im Meeting sagt Pia, dass dieser Schritt sie berühre. „Ich sehe, was für Fortschritte ich gemacht habe.“ Und weiter: „Es ist nicht mehr so, dass ich mich hasse. Ich kann genießen, wer ich bin.“
Später, auf der Rückfahrt von Zürich nach Konstanz, versucht sie zu erklären, was das Wort Charakterfehler ihrer Meinung nach bedeutet. „Das sind Verhaltensweisen, die mich davon abhalten, ich selbst zu sein.“ Zum Beispiel sei sie ein sehr loyaler und ehrlicher Mensch – in der Sucht, aber auch in ihrer Kindheit, sei sie das nicht gewesen. In der Genesung – wie die NA nennt, was ihre Mitglieder durchleben – geht es nicht nur um die Sucht, auch um das was davor, währenddessen und danach mit den Menschen passiert ist. Clean sein, das ist etwas anderes als genesen. Ein Teil vielleicht oder die Voraussetzung.
Im Meeting wird nicht nur über Drogen gesprochen, das sogar weniger: Es geht um Stress auf der Arbeit und Streit in der Beziehung. Danach gehen die Mitglieder zusammen Pizza und Döner essen. Der Umgang ist sehr herzlich, die Mitglieder umarmen einander, hören zu, viele sind schon sehr lang clean und kommen immer noch in die Meetings, leiten Meetings, unterstützen Neuankömmlinge.
Alles ehrenamtlich. Auch Pia. Wenn sie von den NA spricht, dann spricht sie von einem Ort, wo sie so sein kann, wie sie ist. Wo sie sich angenommen fühlt. Wo sie sich geliebt fühlt. Dann spricht sie auch von Glück, das sie nach den Meetings empfindet.
Das klingt fast nach einer Ersatzsucht. „Nein“, sagt Pia. Sucht sei etwas Zerstörerisches. Bei den NA erkenne sie nichts wieder, was sie aus der Sucht kenne. Natürlich sei sie ein Stück weit abhängig – aber, so sagt sie, ein Diabetiker ist ja auch abhängig von seinem Insulin. Wenn sie an ihr Leben in zehn Jahren denkt, will sie eine Familie haben, clean sein und immer noch zu NA gehen. Pia ist bei Schritt sieben, fünf folgen noch. Sie hat noch einen langen Weg vor sich.
Chillen, Party, Sucht – die Serie
Dieser Text ist Teil von Chillen, Party, Sucht: Vom Erwachsenwerden mit Drogen, einem Themenschwerpunkt des SÜDKURIER. In der nächsten Folge lesen Sie auf SÜDKURIER Online: Pia sagt in der Geschichte, dass sie an Drogen hätte sterben können. Was die Statistik über Drogentote in Baden-Württemberg und in der Region sagt.