Seit ihrer Jugend ritzt sich Luna* [*Name geändert] Arme und Beine mit Rasierklingen auf. Als sie das erste Mal LSD nimmt, hört sie damit auf. Nach dem Trip, erinnert sie sich, sagt etwas tief in ihrem Inneren: „Es reicht jetzt.“ Eine Woche später schmeißt sie all ihre Rasierklingen weg. „Ich konnte mich nicht mehr selbst verletzen“, sagt Luna heute, ein Jahr später. Auf ihrer Haut schimmern noch immer silbrige Narben.
Kann das wirklich sein? Kann eine Droge heilen? Wenn Luna von ihrer Erfahrung mit LSD erzählt, dann scheint es so. Und in der Schweiz forschen Mediziner und Psychologen mit LSD und Zauberpilzen zu genau dieser Frage. Müssen wir also ganz anders über Drogen denken?
LSD ist ein künstlich hergestelltes Halluzinogen. Schluckt man eine LSD-Pillen oder lässt ein LSD-getränktes Plättchen auf der Zunge zergehen, halluziniert man. Je nach Dosis, Ort und Konsument kann diese Erfahrung ganz unterschiedlich sein.
Erfunden wurde LSD vom Schweizer Chemiker Albert Hofmann. Der suchte ein Medikament, um den Kreislauf anzuregen. Er fand eine Substanz, mit der man Farben schmecken kann. Die Hippies entdeckten LSD in den 1960er-Jahren für sich, und prompt wurde es verboten. Auch ein medizinischer Nutzen wurde nicht gesehen. „Das hinterfragen wir heute“, sagt Katrin Preller von der Universität Zürich.

Sie forscht zur Wirkung von psychoaktiven Substanzen auf die menschliche Psyche. Hauptsächlich zu Psilocybin, einer Substanz aus halluzinogenen Pilzen, die in ihrer Wirkung LSD sehr ähnlich ist. „Wir können Psilocybin und LSD in einem kontrollierten medizinischen Rahmen einsetzen und wir haben auch Hinweise, dass sie wirksam sein könnten“, sagt Preller. Wirksam gegen Suchterkrankungen und Depressionen.
Luna hat Depressionen. Rezidivierende Depressionen, also Depressionen, die immer wieder kommen. Und Luna hat Borderline. Eine Persönlichkeitsstörung, die durch starke Stimmungsschwankungen, impulsives Verhalten und ein gestörtes Selbstbild gekennzeichnet ist. Es wird vermutet, dass die Störung dann auftreten kann, wenn Menschen Traumatisches in ihrer Kindheit erlebt haben.
„Ein Borderliner ist einfach zu viel Mensch.“Luna* (20)
So wie Luna. Ihr Vater, erzählt sie, habe sie geschlagen, geschubst und an den Haaren über den Boden geschleift. Er sei ihr als Kind auch zu nahe gekommen. Ihre Mutter habe ihr nie wehgetan, aber sie auch nie beschützt. „Mein Vater war zu viel, meine Mutter war zu wenig“, sagt sie.
Zu viel und zu wenig, so fühlt sich auch Luna. Wo andere einfach nur traurig sind, brüllt Luna in ihr Kissen, wo andere einfach nur wütend sind, schmeißt sich Luna krampfend auf den Boden oder zerdeppert Gläser, wo andere einfach verknallt sind, fixiert sie sich auf ihren Schwarm.
„Ein Borderliner ist einfach zu viel Mensch“, sagt sie über sich. Und gleichzeitig zu wenig. Seit sie denken kann, sagt sie, fühle sie sich minderwertig. Wut, Stress, Trauer, Angst, Langeweile – das alles muss raus aus ihrem Körper. Luna ritzt sich. Ein Aderlass für Emotionen. Ein Symptom von Borderline.
Mit 18 geht sie als Patientin in die Psychiatrie, dann macht sie eine Ausbildung. Dabei fängt sie an, sich mit Drogen zu beschäftigen. „LSD hat mich schon länger gerufen“, sagt sie. Wenn sie über LSD spricht, klingt sie, als würde sie ein Referat halten. Luna fragt sich: „Was macht das mit mir?“
„Es gibt Risiken, die im Freizeitkonsum oder bei der Selbstmedikation nicht kontrollierbar sind.“Katrin Preller, Psychologin
Katrin Preller von der Universität Zürich rät vom Konsum von LSD ab – wenn er außerhalb eines kontrollierten medizinischen Rahmens stattfindet. „Die Substanz hat einige Vorteile, aber es gibt gewisse Risiken, die im Freizeitkonsum oder bei der Selbstmedikation nicht kontrollierbar sind.“
Bevor Preller und ihre Kollegen die Substanz verabreichen, checken sie den Blutdruck der Probanden und prüfen die Herz- und Kreislauffunktionen. Von den Versuchen werden Menschen ausgeschlossen, die an einer Psychose erkrankt sind oder Verwandte ersten Grades haben, die psychotisch sind. Um zu verhindern, dass die Substanzen Psychosen auslösen.
Zwar sind Psilocybin und LSD nicht so gefährlich wie Kokain und Co., aber harmlos sind sie auch nicht. Falls etwas schiefgeht, können Preller und ihre Kollegen sofort eingreifen, auch medikamentös, die Einnahme wird von Ärzten und Therapeuten vorbereitet, begleitet und nachbereitet. „Wir schließen Risikofaktoren aus“, sagt Preller. Passiert das nicht, kann ein Trip „gefährlich werden“.
„Es ist okay, dass die Narben da sind. Aber es braucht nicht noch mehr. Es reicht jetzt.“Luna* (20)
Das weiß auch Luna. „Wenn es einem scheiße geht, kann man nicht einfach LSD nehmen und dann geht‘s einem wieder gut“, sagt Luna. Sie wartet mit dem LSD, bis sie sich stabil fühlt. Doch irgendwann ist es soweit. Luna und ihr Freund mieten eine Hütte im Schwarzwald. Im Internet bestellen sie 165 Mikrogramm 1-V-LSD. Das ist ein Derivat, also eine Substanz, die LSD zwar sehr ähnelt, aber eben nur ähnelt. Deshalb war sie vor einem Jahr noch frei verkäuflich, inzwischen ist sie aber verboten.
Im Gespräch erinnert sich Luna an den Trip, sie erzählt mit einer tiefen, weichen, singenden Stimme. Sie und ihr Freund nehmen das Derivat im Wald. Weit weg von allem. „Da lagen Tannenzapfen auf dem Weg, die sahen aus wie eine Herde“, sagt Luna. „Ich habe mich schepps gelacht.“ Da merkt sie, dass der Trip läuft.
Sie spazieren durch den Wald, hören Musik und nisten sich später in einer Hütte ein. Und dann muss Luna aufs Klo. „Ich habe ewig gebraucht, weil ich jede blöde Kachel angeguckt habe.“ Im Bad guckt sie ihre Beine an die Narben auf ihren Oberschenkeln. „Und dann hat etwas tief in meinem Inneren gesagt: Ey, ist scheiße. Es ist okay, dass die Narben da sind. Aber es braucht nicht noch mehr. Es reicht jetzt.“
Was ist da passiert in Lunas Körper? Als Luna die Pille schluckt, gelangt das LSD – beziehungsweise das LSD-Derivat – über die Blutbahnen in ihr Gehirn. Dort docken die LSD-Moleküle an Rezeptoren an, an die sich sonst die Glückshormone Serotonin und Dopamin binden.
Entscheidend für den Trip sind die Serotonin-2A-Rezepotren. Die gibt es im gesamten Gehirn. Wenn die LSD-Moleküle an diesen Rezeptoren in Lunas Gehirn andocken, verändert sich die Art und Weise, wie ihr Gehirn arbeitet. Es filtert Informationen anders, verarbeitet Sinneseindrücke stärker und verknüpft Hirnregionen und damit auch Informationen neu, etwa Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Vorstellungen über die Zukunft. „Das könnte uns therapeutisch erlauben, dass wir einen anderen Blick auf die Welt und uns selbst erhalten“, sagt Preller. So wie Luna es auch erlebt hat.
„Ich hatte nie das Bedürfnis, LSD zu nehmen, als es mir scheiße ging.“Luna* (20)
Es ist nicht so, dass die Welle an LSD, die Lunas Hirn flutet, ihre Gefühle, Traumata und Erkrankungen wegspült. Es ist nicht plötzlich alles gut. Aber es ist auch nicht mehr so schlecht. „Es ist okay“, sagt sie. Und für einen Menschen, der noch nie okay mit sich und der Welt war, ist das ein Fortschritt, den man kaum nachempfinden kann. Sie spürt: Es ist vollkommen okay, dass ich da bin. Es ist vollkommen okay, wie es ist.
Seitdem habe sie auch wieder Zusammenbrüche erlebt, sagt sie, auch die intensiven Emotionen seien noch da. Immer wieder erinnere sie sich an ihren ersten Trip. An die Gefühle, die in ihr aufbrachen. Den Selbstwert, den sie empfunden hat. Das Vertrauen, das sie gespürt hat.
Im vergangenen Jahr hat Luna ab und an noch LSD genommen, sagt sie. Aber sie warnt: „Ich hatte nie das Bedürfnis, LSD zu nehmen, als es mir scheiße ging. Das wäre ein großer Fehler. Weil man seine Gefühle nur noch intensiver wahrnehmen würde.“ Noch mehr Trauer, noch mehr Wut.
Luna ist auch in Therapie, sie war in der Psychiatrie. Das hilft ihr, aber eben auch das LSD. Luna erzählt, dass sie auch Meskalin – ein Halluzinogen aus Kakteen – probiert hat. Sie wirkt, als sei sie auf der Suche. Nach etwas in ihrem Inneren. Für sie sind LSD und Meskalin weniger Medikament, mehr ein Mittel, sich zu öffnen und neue, andere Erfahrungen zu machen. Sie ist neugierig.
Die Trips sind ganz unterschiedlich: Einmal habe sie geweint, weil ihre Katze nichts zu essen hatte, ein anderes Mal habe sie amorphe Hirsche und Schlange neben einer Harley Davidson her traben gesehen. Und nach einem Trip vergibt sie ihrem Vater.
„Jeder Trip ist anders. Auch wenn der gleiche Mensch die gleiche Substanz noch einmal nimmt.“Katrin Preller, Psychologin
„Jeder Trip ist anders“, sagt Preller. „Auch wenn der gleiche Mensch die gleiche Substanz noch einmal nimmt.“ In Studienkontexten wird die psychoaktive Substanz ein- oder zweimal verabreicht. „Schon dadurch erhoffen wir uns langfristige Verbesserungen“, sagt Preller. „Das heißt aber nicht, dass jeder Patient dann langfristig geheilt ist.“ LSD und Psilocybin sind keine Wundermittel.
Noch versteht die Wissenschaft auch nicht, wie die Halluzinogene Menschen mit Depressionen oder Suchterkrankungen helfen, es gibt verschiedene Erklärungsansätze: Durch die Trip-Erfahrungen könnten sich Patienten leichter neuen Ideen öffnen, sagt Preller. Auch die Umstrukturierung der Kommunikation verschiedener Hirnareale könne eine Erklärung sein.
Tierversuche hätten gezeigt, dass nach der Einnahme, beziehungsweise Verabreichung von LSD, das Lernen und Vergessen leichter falle. „Gerade für Patienten, die in ihren Denkmustern festgefahren sind, könnte das eine Hilfe sein“, sagt die Psychologin Katrin Preller. So wie suchterkrankte oder depressive Menschen.
LSD und Psilocybin sind dabei nicht die einzigen illegalen Drogen, die derzeit beforscht werden oder sogar schon als Medikament zugelassen sind. MDMA, also Ecstasy, wird in Studien bei Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung eingesetzt. GHB, auch bekannt als K.O.-Tropfen, ist als Medikament gegen Narkolepsie zugelassen. Ketamin wird als Nasenspray gegen Depressionen genutzt.
Es wirkt so, als ob sich etwas verschiebe in der Wahrnehmung von verbotenen Substanzen. Was erlaubt und was verboten ist, sei immer schon fluide, meint Preller. Schließlich seien verschreibungspflichtige Medikamente wie Benzodiazepine ohne Rezept auch verboten. „Was sich aber verschoben hat, ist, wie wir mit Psychedelika umgehen.“
Ab wann ist eine Droge keine Droge mehr, sondern Medizin? „Sobald sie eine klinische Entwicklung und entsprechende Studien durchlaufen hat und für den Markt zugelassen ist“, sagt Preller ganz nüchtern. Ganz so weit ist es bei LSD noch nicht. Aber Preller glaubt: „Das könnte irgendwann kommen.“
Chillen, Party, Sucht – Die Serie
Dieser Text ist der letzte Teil von Chillen, Party, Sucht: Vom Erwachsenwerden mit Drogen, einem Themenschwerpunkt des SÜDKURIER. Mit dieser Folge endet die Serie – vorerst. Denn die Redaktion will das Thema weiter begleiten. Schrieben Sie uns dazu gerne: konstanz.redaktion@suedkurier.de – Informantenschutz wird zugesichert.