Es ist ein extrem kalter Tag Anfang Februar und direkt am See weht ein besonders eisiger Wind. Nese Erikli ist durchgefroren, sie hat bereits drei Stunden am Wahlkampfstand der Grünen auf dem Wochenmarkt gestanden, Wahlkampf muss sein, auch in Corona-Zeiten. Irgendwann erreicht jeder seine körperliche Grenze und bei Nese Erikli wird jetzt deutlich, dass sie erreicht ist.
Ohne Corona wäre das alles einfacher, formuliert Erikli es sinngemäß, auch wahlkämpfen kann in diesen Zeiten zur Last werden. Dabei stehen ihre Chancen gut, die Umfragewerte für die Grünen sind hervorragend, große Sorgen muss sich die 39-Jährige nicht machen. 2016 war ihr Start in den Job der Landtagsabgeordnete noch Neuland, inzwischen kann sie auf fünf Jahre Erfahrung zurückblicken.
Ihre Bilanz? Hilfen, Unterstützungen, Neugründungen: Das Stadttheater Konstanz habe eine Förderung von 0,5 Millionen Euro erhalten, sie habe wesentlich dazu beigetragen, dass Radolfzell das gewünschte Hebammenzentrum eröffnen kann: Seit die Geburtenstation in Radolfzell geschlossen wurde, hatten Schwangere geklagt, dass sie sich bei der Geburtsvorbereitung nicht ausreichend betreut fühlten. Der Breitbandausbau auf der Höri sei mit 3,3 Millionen Euro gefördert worden, auf dieses Projekt ist die Landtagsabgeordnete besonders stolz.
Nese Erikli: „Es sind schöne Dinge, die ich bewegen konnte“
Wenn es um Erreichtes geht, sind ihr die individuellen Hilfen besonders wichtig: Etwa 100 Mails bekomme sie jeden Tag von Kranken, Arbeitslosen, Ratsuchenden. Nicht allen könne sie helfen, sie nutze aber ihre Kontakte, um so vielen Menschen wie möglich eine Perspektive zu geben.
Viele Flüchtlinge wendeten sich an sie, meist mit der Bitte, dass ihre Geschichte nicht öffentlich werde. Auch ihnen versuche sie zu helfen. „Es sind gute Lösungen, zu denen ich beitragen konnte“, zieht Erikli nach fünf Jahren Bilanz.
Gelder, Fördersummen, Projekte: Es ist eine Geschichte der Wohltaten, die jeder Landtagsabgeordnete im Wahlkampf erzählt, bei Erikli allerdings ohne, dass dabei ein Projekt von besonderer Leidenschaft hervorsticht. Welches Thema treibt sie wirklich um?
Der Klimaschutz ist es jedenfalls nicht, auch wenn die Konstanzerin gerne auf die Erfolge der Landesregierung verweist: Die Förderung der Schienenverkehrs, viele Millionen Euro für den Ausbau von Radwegen. Für Neubauten von Nichtwohngebäuden habe die Regierung nun die Pflicht eingeführt, Photovoltaikanlagen zu installieren.
„Wir wollen bis 2030 aus der Kohle aussteigen“, sagt sie. Das seien alles große Erfolge, man müsse immer bedenken, dass der Koalitionspartner CDU nicht alles mitmache. Es wirkt eher wie die saubere Aufzählung einer abzuarbeitenden Liste als die flammende Rede einer entschlossenen Klimaschützerin.
Ein streitbarer Charakter, der sich nicht unterkriegen lässt
Außer vielleicht eine Leidenschaft, die Nese Erikli kaum verhehlen kann. Sie streitet gern – und zwar ausgerechnet mit jenen, die ihr von vornherein nicht wohlgesinnt sind: mit der AfD und ihrer rechtslastigen Gefolgschaft.
Davon zeugt ein zweiminütiges Video auf Facebook, in dem sie bei einer Landtagsdebatte die Herren der AfD scharf attackiert. Es geht in der Debatte um die Corona-Verordnungen und sie habe sich bei dem Thema weder zurückhalten können noch wollen, sagt die Abgeordnete. Zu wichtig sei der Schutz der verwundbaren Gruppen vor dem Virus.
Dabei sind diese Angriffe auf die rechtslastige Fraktion weder selbstverständlich noch ungefährlich. Mehrfach hat die Grünen-Abgeordnete mit Migrationshintergrund Anfeindungen und Bedrohungen auf offener Straße erlebt. Von einem inzwischen verurteilten Mann ist sie bespuckt worden, ihr Fahrrad wurde beschädigt.
Unter dem Post mit dem Video beschimpften etliche Facebook-User Erikli mit wüsten Formulierungen und Beleidigungen. Die Abgeordnete geht inzwischen gegen solche Angriffe gerichtlich vor, weiß aber wie jeder andere Politiker, dass nur die wenigsten Kommentarschreiber ermittelt und bestraft werden.
Nur 25 Prozent der Abgeordneten im Landtag sind Frauen
Warum wagt sie sich in diese Schlangengrube vor? Vielleicht, weil sie ein Zeichen setzen will, weil sie irgendwann aufhören will, Opfer zu sein, weil die Wut zu groß ist und der Mut, sich zu wehren, immer noch ausreicht.
Nur 25 Prozent der Landtagsabgeordneten seien Frauen, das betont Nese Erikli immer wieder – und reagiert umgekehrt angefasst, ja, fast beleidigt, auf jede Frage nach ihrem Privatleben. Vielleicht spricht aus ihr die Erfahrung, dass jeder politische Schritt irgendwann zur Gefahr für ihr Leben werden kann.
An diesem hellen Nachmittag scheint allerdings die größte Gefahr, im eisigen Wind zu erfrieren. Oder auch, dass diese Pandemie mit ihrem Frischluft-Wahlkampf nie ein Ende nimmt. Dass der Wahlkampf sich trotz aller Widrigkeiten lohnen wird, davon dürfte Nese Erikli ausgehen. Wer kämpft, muss an sich und ans Gewinnen glauben, sonst wäre es sinnlos.