Der Videoausschnitt vom 12. November 2020 auf der Facebook-Seite der grünen Landtagsfraktion von Baden-Württemberg dauert nur 2:26 Minuten. 470 Kommentare stehen darunter und unzählige Emojis, die wütend sind oder sich übergeben. Knapp fünf Prozent der Beiträge haben strafrechtliche Relevanz. In den meisten Beiträgen wird die Frau, die in dem Video am Rednerpult im Plenarsaal des Landtags zu sehen und zu hören ist, beschimpft, verunglimpft und lächerlich gemacht. Es gibt in den Beiträgen rassistische und sexistische Hetze. Und es wird dazu aufgerufen, der Frau diverse Arten von Gewalt anzutun. Diese Beiträge bekommen viele Herzchen und Likes.

Die Frau ist Nese Erikli, 39 Jahre alt, Landtagsabgeordnete der Grünen für den Wahlkreis Konstanz. Das Video ist ein Ausschnitt ihrer Rede bei einer Debatte im November, in der sie für ihre Fraktion auf die AfD-Forderung nach Abschaffung der Maskenpflicht antwortet. Erikli ist darin scharf und angriffslustig und zerpflückt die Argumentation der AfD. Manchmal ist vor lauter wütenden Zwischenrufen schwer zu verstehen, was sie sagt. „Mir war klar, wenn ich diese Rede halte, werde ich wieder tagelang im Netz bombardiert“, sagt Erikli. Sie sollte Recht behalten.

Zu Gewalttaten aufgerufen

Unter dem Beitrag auf der Facebook-Seite stehen Kommentare wie: „Aus welchem Puff haben sie die geholt“; „weg mit dem grünen DRECK“, „halt die Fresse DUMPFBACKE“, „Grüner ABSCHAUM“, „was ist das für eine hole Nuss“, „was ist das für ein hässliches Gesicht“. Da steht auch: „Ihr HITLER2.0 Huren werden allesamt Guantanomo und Workuta/RU besuchen...!....“. Und einer fordert: „der alten sollte man die lederjacke runterreissen und verprügeln damit“.

Angriffe und Übergriffe

Erikli hat sich mit ihrem Anwalt, dem Konstanzer Strafverteidiger Gerd Zahner, dazu entschlossen, rechtlich gegen die Urheber der Beiträge vorzugehen und die Sache öffentlich zu machen. Bereits im vergangenen Jahr hatte sie mit dem SÜDKURIER über persönliche Angriffe und Bedrohungen gegen sie gesprochen. Sie war in Konstanz auf offener Straße bedroht und bespuckt worden, ihr Fahrrad wurde beschädigt und ihr Auto vor ihrer Haustür. Auch damals schaltete sie die Justiz ein.

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Nun also die Facebook-Nutzer. Mitte Januar ging bei der Konstanzer Staatsanwaltschaft ein dicker Schriftsatz mit Strafanzeigen gegen 25 der Facebook-Kommentatoren ein. Drei davon hat Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach von der Konstanzer Staatsanwaltschaft im nicht justiziablen Bereich verortet, wie er sagt. Bei den 22 anderen Personen wird sich, sofern sie ermittelt werden können, in den kommenden Monaten die Kriminalpolizei melden.

Kinderfotos und Rassismus

Die Frauen und Männer haben Accounts mit vollem Namen und Profilbildern angelegt. Sie posten ihren Wohnort und ihren Beziehungsstatus, Bilder von ihren Kindern und Haustieren und posieren vor der Fahne ihres Bundesligaclubs. Und sie betreiben im Netz völlig ungeniert menschenverachtende Hetze.

„Wir waren in der Kanzlei erstaunt, wie offen bedrohlich, rassistisch, sexistisch und beleidigend diese Kommentare sind“, sagt Rechtsanwalt Gerhard Zahner.

Rechtsanwalt Gerhard Zahner
Rechtsanwalt Gerhard Zahner | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Mit üblen Anfeindungen lebt Erikli schon seit 2016, als sie in den Landtag gewählt wurde. Doch in den vergangenen Monaten des zunehmenden Frusts über Corona haben die Hassbekundungen im Netz noch einmal eine neue Dimension erreicht. „Du bist kein Mensch mehr, keine private Person, sondern nur noch Politikerin, der man alles sagen kann. Erst recht, wenn du eine Frau bist und einen Migrationshintergrund hast“, sagt Erikli.

Im Internet stehen ungeahndet Aufforderungen zu Gewalt, die Tausendfach geteilt, weitergeleitet und niemals gelöscht werden. „Wenn die Gesellschaft hinnimmt, was vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre – was nehmen wir dann in 20 Jahren oder in zwei Jahren hin?“ fragt Rechtsanwalt Zahner. „Wo ist die Grenze und wo führt das hin?“.

Gewalt schwappt aus dem Netz ins echte Leben

Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist für den Juristen ein symptomatisches Beispiel dieser Grenzverschiebung in drei Phasen. Den Anfang habe es genommen, als Lübcke im Jahr 2015 bei einer Veranstaltung in Nordhessen über eine Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge informiert hatte, seine Rede von Rechten gestört wurde und niemand im Saal ihm beigesprungen sei.

Der Satz „Und wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen“ machte Lübcke zum Feindbild der rechten Szene, die den Auftritt im Netz verbreitete – die zweite Phase. Über Jahre wird Lübcke dort an den Pranger gestellt. Bis die dritte Phase eintritt: „Plötzlich fühlt sich jemand legitimiert, ihn abzuknallen“, sagt Jurist Zahner.

„Und wir schauen zu“

„Der Psychopath setzt da an, wo die Gesellschaft aufhört, zu handeln. Wenn die Gesellschaft den Rahmen dafür verschiebt, was tolerierbar ist, dann verschiebt sich auch das Handeln derer, die glauben, den Hass im Netz vollstrecken zu müssen. Und wir schauen zu, wie unsere rechtlichen Prinzipien wegschwimmen.“

Nese Erikli und Anwalt Zahner vor dem Landtag in Stuttgart.
Nese Erikli und Anwalt Zahner vor dem Landtag in Stuttgart. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Nicht ausgeschlossen, dass die Anzeigen gegen die Facebook-Kommentatoren versanden. Die Rechtsprechung bislang gibt zudem wenig Anlass, auf harte Konsequenzen für die Verfasser zu hoffen – obwohl der Strafrahmen für Beleidigungen und Anstiftung zu Gewalt neben Geldbußen auch Freiheitsstrafen zulässt. „Man muss in die richterliche Abwägung bei solchen Verfahren mit einfließen lassen, das die nächste Stufe tatsächlich Gewalt ist“, sagt der Jurist, der eine Neuorientierung in der Rechtsprechung einfordert.

Mit offenem Visier

Auch Erikli sind die Gefahren bewusst. „Aber es kann nicht sein, dass ich mich da einschüchtern lasse“, sagt sie. „Ich kämpfe mit offenem Visier. Und die Täter sollen wissen, dass sie sich für ihre Äußerungen verantworten müssen.“ Konkret wäre es schon ein Erfolg, wenn die Pöbler die Erfahrung machen, dass ihre Hetze im Netz ganz greifbar ins echte Leben hinüberschwappt. In Gestalt der Polizei, die vor der Tür steht.