Erst wurde ihr Fahrrad beschädigt, dann kamen die ersten bösen Mails mit eindeutigen, auch sexuellen Anspielungen. Vor einem Jahren wurden die Autoreifen angeschlitzt, dann die Frontscheibe des Autos beschädigt, das direkt vor dem Wohnhaus von Nese Erikli abgestellt war. Täter oder Täterin wissen Bescheid, wo die Berufspolitikerin wohnt. Sie schicken Drohungen, sie wird gestalkt. Seit drei Jahren ist die Konstanzer Landtagsabgeordnete einem Hass ausgesetzt, den sie als anschwellend empfindet. „Ich frage mich, wo wird das enden?“, sagt sie im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

Der kardinalrote Lippenstift

Sie hat um das Treffen gebeten, aus gutem Grund: Die Angriffe auf ihre Person und das private Umfeld gelten dem Status, den sie selbstbewusst verkörpert: Erikli stammt aus einer türkischen Familie. Ihre Mutter, erzählt sie, war Analphabetin. Und jetzt sitzt die Tochter für eine Regierungspartei im Parlament. Und sie ist Frau, die sehr genau überlegt, was sie anzieht und wie es wirkt. Der kardinalrote Lippenstift ist ihr Markenzeichen. Der elegante Auftritt muss sitzen.

Sie hat es in den Landtag geschafft: Nese Erikli vor dem Parlamentsgebäude, im Hintergrund das Neue Schloss in Stuttgart.
Sie hat es in den Landtag geschafft: Nese Erikli vor dem Parlamentsgebäude, im Hintergrund das Neue Schloss in Stuttgart. | Bild: Pfanner, Sandra

Nese Erikli ist, wie auch ihre Kollegin Muhterem Aras, zur Zielscheibe von rechtsextremen Tiraden geworden, immer mit einem kräftigen Unterton an Frauenfeindlichkeit. Die meisten der bösen Schreiben sind mit Echtnamen gezeichnet. Die Absender machen sich nicht einmal die Mühe, ihre Identität zu verbergen.

Putzfrau ja. Aber Politikerin?

Erikli ist unruhig. Sie stellt Anzeige um Anzeige, aber es passiert wenig. Ein Täter aus dem selben Stadtteil wurde rechtskräftig verurteilt. Längst ist er nach einigen Wochen Haft wieder auf freiem Fuß.

Auch sie wird häufig angepöbelt: Landtagspräsidentin Muhterem Aras, ebenfalls Grünen-Politikerin
Auch sie wird häufig angepöbelt: Landtagspräsidentin Muhterem Aras, ebenfalls Grünen-Politikerin | Bild: Christoph Schmidt, dpa

Die 39-Jährige sieht auch Futterneid hinter diesen Attacken. Eine türkische Putzfrau, ja. Aber ein Einwandererkind, das im Parlament sitzt und große Reden hält? Das geht gar nicht, geifern manche Zeitgenossen. Sie sind es, die Integration verweigern. Das heißt in diesem Fall, dass eine Zuwandererin die Chefin wird.

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Nese Erikli sieht ein System dahinter: Rechtslastige und fremdenfeindliche Netzwerke werfen sich immer dreister auf Politiktreibende, die nicht in ihr Weltbild passen. Also Menschen mit ausländischen Wurzeln, linke Politiker oder solche, die sich für Flüchtlinge einsetzen wie Werner Lübcke. Der Kassler Regierungspräsident wurde auf der Terrasse seines Hauses erschossen, weil er sich seit 2015 für Flüchtlinge eingesetzt hat. Es ist eine Mischung aus Fremdenfeindlichkeit, Neid und Macho-Gehabe, die sich verbreitet.

Beschädigt vor dem Wohnhaus: Ein Polizist sichtet den Schaden am Wagen von Nese Erikli.
Beschädigt vor dem Wohnhaus: Ein Polizist sichtet den Schaden am Wagen von Nese Erikli. | Bild: Uli Fricker

„Die Gesellschaft schaut zu“

Der Anwalt Gerd Zahner berät Erikli immer wieder. Der erfahrene Konstanzer Strafverteidiger sagt: „Diese Ausbrüche werden immer gefährlich und immer mehr.“ Er sieht die Gefahr der Verharmlosung nach dem Motto: Das sind doch alles nur Einzelfälle. Das seien sie eben nicht, sagt Zahner, der auch als unbequemer Autor von prickelnden Theaterstücken bekannt wurde. „Die Gesellschaft schaut zu, wie sich Gewalt auf ein immer höheres Niveau schraubt.“

Der Anwalt Gerd Zahner berät Nese Erikli.
Der Anwalt Gerd Zahner berät Nese Erikli. | Bild: Fricker, Ulrich

Rechtsaußen werde wieder salonfähig, fürchtet der Jurist und kritische Zeitgenosse Zahner. Was auf einschlägigen Plattformen im Internet vorbereitet und umspielt wird, tritt später ins reale Leben ein. Erst Fiktion, dann Faktum. Zahner sieht hinter den Vorgängen eine „maligne Struktur“ – ein bösartiges politisches Gewebe im Wachstum.

Wahlkampf mit Polizeischutz?

Er schaut bereits auf nächstes Jahr: Im März wird ein neuer Landtag gewählt werden. Nese Erikli kandidiert erneut für einen Sitz, gleichzeitig steht sie unter Beschuss der rechten Ecke. Zahner fragt: „Was macht das mit dem Wahlkampf?“ Ist das noch Chancengleichheit, wenn eine Bewerberin unter dem Damoklesschwert der Angst um Stimmen werben muss – während andere ihren Stand ganz unbelastet aufbauen können?

Sie lässt sich den Optimismus nicht nehmen: Nese Erikli, Grünen-Politikerin aus einer türkischen Familie.
Sie lässt sich den Optimismus nicht nehmen: Nese Erikli, Grünen-Politikerin aus einer türkischen Familie. | Bild: Fricker, Ulrich

Ihr Verhalten hat sie seit Beginn der Attacken geändert. „Ich schaue, dass mich jemand zuhause abholte und nach der Veranstaltung nach Hause bringt“, sagt sie. Ihre Tochter nimmt sie nie mit, um sie herauszuhalten. Andere Mitbewerber bringen ungeniert ihre Kinder mit. Das könnte sie sich nicht leisten. Das unbeschwerte Leben, das die Universitätsstadt Konstanz ausmacht, kann sie nicht mehr teilen. Sie überlegt jeden Schritt aus dem Haus, fühlt sich und die Tochter beobachtet. Im Wahlkampf wird sie zu jedem Termin die Polizei bitten.