Max Giesinger kann vielleicht gar nichts für seine Songs und er ahnt es. Bei seinem Auftritt am Samstagabend im Bodenseestadion sagt er es selbst in einer dieser Songpausen, in denen er Einblicke in sein Privatleben gibt. Weiß er denn, welche seiner Gefühle die seinen sind? Sind sie echt oder nur Reflexe einer gesellschaftlichen Stimmungslage? Was haben seine Songs mit ihm zu tun, was sind bloße Abziehbilder? Ja, es ist schwierig, das Ich und das Wir auseinanderzuhalten. Wer wüsste davon kein Lied zu singen? Wir alle sind einer von 80 Millionen.

Den etwa 1500 Besucher am Hörnle aber ist‘s egal, für sie ist der Mann ein Medium. Dem Zugpferd der kultivierten Schnoddrigkeit im Sound des neuen deutschen Schlagers gelingt es, seine persönliche Lebenswirklichkeit textlich und melodisch so anzureichern, dass sich die Zuhörer in den Songs wiedererkennen. Krass deutlich wird das im Song über die allein erziehende Mutter, die nach einer ganz normalen 50-Stunden-Woche die Kinder versorgt und sich erst danach wegträumt im Tanz. Da ist sie eine andere und anderswo.

Rund 1500 Besucher kommen ins Stadion am Hörnle, um Max Giesinger im Konzert zu erleben.
Rund 1500 Besucher kommen ins Stadion am Hörnle, um Max Giesinger im Konzert zu erleben. | Bild: Lucht, Torsten

Sie tanzt nicht allein an diesem Abend. So gut wie niemanden hält es auf den Stühlen: Die verlassene Mutter sind schlagartig wir, die barfuß in New York gehen, allein durch Alaska trampen oder vor Bali über Board springen und durch blaues Wasser tauchen. Der Hit ist ein Befreiungslied für ein im jeweils privaten Kummer eingeengtes Kollektiv, das raus möchte und nicht weiß wie. Zum Glück gibt es das Gefühl, wobei der Song über jene Frau von der traurigen Mutter-Gestalt nicht die Perspektive einer Solidarität eröffnet, sondern im melancholischen Zustand verharrt. Aber das muss so sein: Denn das Ding von Max Giesinger ist schließlich der Schlager, und nicht das Chanson oder etwa die Ballade.

Stolzer Eintrittspreis: 60 Euro kostet das Ticket für das Konzert von Max Giesinger an der Abendkasse. Tamara Großhans (31, links) hat ...
Stolzer Eintrittspreis: 60 Euro kostet das Ticket für das Konzert von Max Giesinger an der Abendkasse. Tamara Großhans (31, links) hat sich das gegönnt, weil „Max Giesinger das wert ist“, ihre Nichte Lara Benzing (17, Schülerin) hat sich die Eintrittskarte schenken lassen. | Bild: Lucht, Torsten

Aber es muss ja nicht das Ende einer Musikerkarriere sein, Max Giesinger und seiner Kunst als Songwriter und Sänger ist mehr zuzutrauen. Das zeigt allein seine bisherige Laufbahn, in der kurzen Zeit vom Straßenmusiker zum Hit-Produzenten bringt er Unglaubliches zuwege. Sein Terrain ist dabei das Beziehungsgeflecht der gescheiterten großen Liebe, der Familie oder beispielsweise der Schulzeit und damit ein Karo, das streng genommen gerade mal der Gesprächsebene eines durchschnittlichen Familientreffens genügt. Erzählt wird von der Mutter, die den Fünfer-Schüler in den Gitarrenunterricht schickt, oder der Oma, die mit 16 Jahren schwanger wurde und von da ab ihr Leben der Familie widmete. Manchmal kommt der 32-Jährige dabei ein wenig altklug daher, etwa wenn er die Lebenswege seiner ehemaligen Schulkameraden besingt – es ist einfach zu früh, wenn jemand sich als selbst noch nicht so recht angekommen beschreibt und zugleich seine Memoiren präsentiert.

Familienabend – und ein bisschen wie bei Thomas Gottschalk

Das alles ist privatim, weshalb das Konzert einem großen Familientreffen gleicht. Alle Altersklassen sind vertreten, und ein bisschen fühlt es sich an wie bei Thomas Gottschalk in den besten Wetten-dass-Zeiten, wenn Max Gieisinger durch die Stuhlreihen spaziert, am Ende ein Bad in der Menge nimmt, oder sich mit Lob über die Stadt und den Bodensee ans Publikum ran wirft. Dem Augenschein nach benötigt Letzteres (zumal nach Corona) genau das und so verzeiht man der Performance einiges. Zum Beispiel die übertrieben oft geäußerte direkte Ansprache der „Leute“, die doch hoffentlich wie Max Giesinger selbst irgendwie alles und jedes (die Party, den Mond, das Wetter) „einfach nur geil“ finden und was das alles doch für ein „Hammer“ sei. Auch die Gier nach Applaus wirkt übertrieben und müsste nicht sein, erfüllt als Stimmungsmacher gleichwohl ihren Zweck.

Rund 1500 Besucher kommen ins Stadion am Hörnle, um Max Giesinger im Konzert zu erleben.
Rund 1500 Besucher kommen ins Stadion am Hörnle, um Max Giesinger im Konzert zu erleben. | Bild: Lucht, Torsten

So wie auch für das Konzept der Konstanzer Sommerwiese. Der Name allein samt der blumigen Logo-Gestaltung steht für die gewünschten Leichtigkeit des Seins, in die die Songs der neuen Schlager-Garde um Songwriter wie Max Giesingers, Wincent Weiss und Joris wie maßgeschneidert passen. Ihre Unverbindlichkeit in den Texten und der melancholischen, mitunter etwas weinerlichen Tonlage findet ihren künstlerischen Ausdruck übrigens in einem lässigen Jargon mit einem typischen Ausfall unbetonter Vokale. Die Flapsigkeit kommt an und bietet zugleich Raum für Selbstfindungen: Max Giesingers Weg ist bestimmt noch nicht zuende.