Bevor der Richter am Ende des zweiten Prozesstages sein Urteil verkündet, erleben die Besucher des Landgerichts Konstanz ein emotionales Drama. Der Angeklagte ringt mit den Tränen, während der Staatsanwalt sichtlich erschüttert auf die Entscheidung des Gerichts reagiert. In seiner Frustration versucht er, sich zu beherrschen. Wie konnte es dazu kommen?
Die Rolle des Beschuldigten
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich an Schockanrufen beteiligt zu haben. Da seine genaue Rolle am ersten Verhandlungstag bislang unklar geblieben war, ist am zweiten Tag ein Beamter des Landeskriminalamts als Zeuge geladen. Dieser beschreibt den Angeklagten als zentralen Akteur innerhalb der Betrügerbande und hebt hervor, dass er in verschiedenen Bereichen der Organisation tätig gewesen sei. Diese Position habe er wegen seiner Beziehung zur Tochter des Bandenchefs erlangt, wodurch er innerhalb der Familie großes Vertrauen genoss.
Der 31-jährige Kriminalbeamte bezeichnet den Schwiegervater als „Mastermind“ der Bande und den Angeklagten als dessen „rechte Hand“. Als Beleg führt er Telefonaufzeichnungen an, die jedoch nur Hinweise auf die drei vorgeworfenen Straftatbestände liefern. Außerdem verweist er auf den aufwendigen Lebensstil des Angeklagten und dessen Lebensmittelpunkt London, wo die Bande ihren Sitz gehabt habe. Der Beamte betont, dass rangniedere Mitglieder den 28-Jährigen nur unter einem Decknamen kannten, um seine Identität zu schützen.
Für den Richter ist das zu wenig: Als er den Kriminalbeamten unterbricht und ihn nach klareren Indizien befragt, interveniert der Staatsanwalt: „Bei allem Respekt, aber der Zeuge muss Ihre Fragen auch beantworten können!“ Der Richter hält entgegen: „Er bringt doch hier nur Mutmaßungen vor! Können wir dem Beschuldigten wirklich eine solche wichtige Position zusprechen, nur weil er bei zwei Fällen dabei war?“
Um die Telefonmitschnitte dem Angeklagten zuzuordnen, wurde im Ermittlungsverfahren auf eine Software zugegriffen, die laut dem geladenen Sachverständigen darauf hinweist, dass dort mit hoher Wahrscheinlichkeit die Stimme des Angeklagten zu hören ist. Ein weiterer Sachverständiger bestätigt diese Einschätzung und führt dazu phonetische und sprachliche Merkmale an.
Als wäre Weihnachten im Januar noch mal passiert
In seinem Plädoyer hebt der Staatsanwalt die aus seiner Sicht wichtige Rolle des Beschuldigten hervor. Auf die Vermutung, dass nichts passiert sei, betont er: „Sie haben nicht die Zeugin gehört, die den Besitz ihrer Familienangehörigen durch solche Betrugsfälle verloren hat und nicht die Zeugin, die mit einem Heulkrampf vor Gericht zusammenbricht.“ Solche Aussagen habe er in anderen Fällen mitbekommen.
Als bei der Verständigung zwischen den Prozessparteien das Strafmaß von drei Jahren im Raum stand, „habe ich auf die Seite des Angeklagten geblickt: Die Anwälte haben geschaut, als wäre Weihnachten im Januar nochmal passiert“, so der Staatsanwalt.
Er fügt hinzu: „Ich bitte Sie, einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen, ob diese drei Jahre nicht falsch waren?“ Dies richtet er besonders an die anwesenden Schöffinnen. Im Vergleich zu anderen Prozessen, die deutlich härter ausgefallen seien, sagt er: „Konstanz urteilt deutlich milder.“ Abschließend fordert er eine Haftstrafe von mindestens sechs Jahren und sechs Monaten.
Der Rechtsanwalt hält dagegen: „Nur weil andere Taten so beurteilt werden, ist das nicht auf diesen Fall übertragbar.“ Und weiter: „Dass unser Mandant hier ein wichtiger Hintermann sei, dafür fehlen schlichtweg die Beweise.“ Immer wieder kommt er auf das Geständnis des Angeklagten zurück und meint: „Wenn das nicht berücksichtigt wird, was ist es dann wert?“
Darüber hinaus erwähnt der zweite Rechtsanwalt des Beschuldigten, dass der entstandene Schaden überschaubar sei. Der Pensionär aus dem Kreis Konstanz habe sein Geld zurückbekommen und im anderen Fall sei es erst gar nicht zu einer Übergabe gekommen.

Als er von den schweren Haftbedingungen des Angeklagten spricht, fängt dieser an zu weinen. Er nimmt seine Brille ab und versucht hastig, die Tränen wegzuwischen. Als er daraufhin das letzte Wort erhält, entschuldigt er sich für seine Taten und klagt: „Seit 18 Monaten ist meine Familie zerrissen. Ich vermisse meine Kinder.“
Staatsanwalt muss sich beherrschen
Der Richter verurteilt den Angeklagten zu zwei Jahren und neun Monaten Haft. Er muss sowohl das Geld der versuchten Geldwäsche zurückzahlen als auch für die entstandenen Gerichtskosten aufkommen. Zu den zwei Betrugsfällen meint er: „Dort ist es nicht wirklich zu einem Schaden gekommen. Zwar mag das für andere Fälle gelten, ich muss aber für diesen Fall hier entscheiden.“
Weiter führt er aus: „Wir konnten nicht feststellen, dass der Angeklagte ein Hintermann war.“ Bei den Taten, die ihm nachzuweisen sind, habe er eine eher untergeordnete Rolle eingenommen. Der Richter fügt hinzu: „Das spricht dafür, dass er nicht die rechte Hand des Bandenchefs war oder nur so schlau gewesen ist, sich dabei nicht erwischen zu lassen.“
Während der Urteilsverkündung wirkt der Staatsanwalt persönlich angegriffen. Ihm fällt es sichtlich schwer, die Fassung zu bewahren. Er schnaubt, rauft sich die Haare und bewegt sich nervös mit seinem Stuhl hin und her. Oftmals versucht er, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, indem er seinen Mund aufreißt, als wolle er schreien. Als der Richter den Saal schließt, eilt er sichtlich genervt aus dem Gerichtsgebäude. Auf Anfrage teilt die Staatsanwaltschaft mit, dass sie Revision eingelegt hat. Das Urteil ist somit nicht rechtskräftig.