Manchmal, wenn bei Marlene Bayer das Telefon klingelt, ist das große Drama dran. „Ihre Tochter hat ein Kind überfahren. Sie muss ins Gefängnis!“, heißt es dann und im Hintergrund ist hysterisches Weinen zu hören. Oder: „Bei Ihnen wird heute Nacht eingebrochen, bringen Sie alles in Sicherheit!“ Marlene Bayer muss dann immer ein bisschen schmunzeln. „Da kribbelt es bei mir. Da freu‘ ich mich und denk mir: Den pack‘ ich jetzt. Heut fang‘ ich wieder einen!“
Marlene Bayer aus Maidbronn, einem Ortsteil von Rimpar im Kreis Würzburg, ist 84, pensionierte Verkäuferin – und aktive Gangster-Fängerin. Im Februar 2019 ging es los. Da riefen die ersten Schockanruf-Betrüger bei ihr an und gaben sich als Polizisten aus: In der Nacht solle bei ihr eingebrochen werden, hieß es. Sie solle ihr Bargeld und ihren Schmuck einer Polizistin übergeben, nur so könnten ihre Habseligkeiten geschützt werden.
Die verängstigte Seniorin spielt sie nur
Bayer mimt die verängstigte Seniorin und alarmiert unbemerkt mit dem Handy die echte Polizei. Die Würzburger Kripo-Beamten schleichen sich in ihre Wohnung und verschanzen sich im Schlafzimmer. Über Stunden geht das Telefonat mit den Betrügern damals, kein einziges Mal wird es unterbrochen. Bayer und die Polizisten kommunizieren still mit Zetteln und Handzeichen.
Als es spätabends dann an der Haustür schellt, lässt die Maidbronnerin die falsche Polizistin herein – eine Frankfurter Prostituierte, wie sich herausstellen wird. Die echten Beamten stürmen aus ihrem Versteck ins Wohnzimmer, zwischen Bayers Orchideensammlung und den Engelsfigürchen wird die Frau festgenommen.
„Wenn noch mal einer anruft, mach‘ ich das wieder.“Marlene Bayer nach dem ersten Betrugsversuch
„Richtig gut“ sei das gewesen, sagt die 84-Jährige heute. „Als die ganze Sache rum war, war die Familie ganz aufgeregt. Meine Tochter wollte, dass ich die Nacht nicht alleine bin, alle waren ganz aus dem Häuschen.“ Bayer schickt die aufgewühlte Verwandtschaft nach Hause, setzt sich zufrieden mit Kater Romeo aufs Sofa und lässt den Abend Revue passieren: „Und als ich da so saß, hab ich gemerkt: Das hat mir gefallen. Wenn noch mal einer anruft, mach‘ ich das wieder.“
Es sollte so kommen. Vier weitere Male hat Marlene Bayer seitdem Betrüger dingfest gemacht. Eine Danksagung des unterfränkischen Polizeipräsidenten Detlev Tolle steht neben ihrem Bett, der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat Bayer 2023 mit der Medaille für Verdienste um die innere Sicherheit ausgezeichnet. Manche der Betrüger mussten für Jahre hinter Gitter. Die Maidbronnerin sagte als Zeugin in den Gerichtsverhandlungen aus.

Warum rufen die Betrüger immer wieder bei Marlene Bayer an? Alleinstehende Mittachtzigerin aus einem 1000-Einwohner-Nest auf dem Land, die ganz hervorragend ins Opfer-Schema passt? „Kurze Nummer. Alter Vorname. Steht im Telefonbuch. Danach wählen die Betrüger aus“, erklärt der für Callcenter-Betrug zuständige Kommissariatsleiter von der Kripo Würzburg, der namentlich nicht genannt werden will, weil er fürchtet, dass Telefonbetrüger künftig seinen Namen verwenden könnten.
Von Marlene Bayer spricht er wie von einer alten Kollegin. Dass Seniorinnen und Senioren der Polizei helfen, die Enkeltrickbetrüger und Schockanrufer dingfest zu machen, käme immer wieder mal vor, sagt der Kripo-Beamte. „Allerdings meist dann, wenn die Rentner nicht alleine wohnen und der Ehepartner unbemerkt die Polizei ruft.“
Zum Repertoire gehört Weinen auf Knopfdruck
Die 84-Jährige aus Maidbronn ist besonders: „Unsere Frau Bayer muss gar nicht so sehr geführt werden. Sie spielt ihre Rolle ganz alleine ohne jede Anweisung hervorragend, immer wieder aufs Neue, jedes Mal stundenlang“, meint der Kripo-Beamte. „Sie hat genau das richtige Gespür dafür und lässt sich Lösungen einfallen, wenn unterwegs Probleme auftauchen.“
Kreativ werden musste Marlene Bayer schon öfter: Einmal weisen die Betrüger sie an, ihren Schmuck zu wiegen. Damit es am anderen Ende der Leitung richtig schön klimpert und klingt, hantiert Bayer mit ihrem Besteck. Als sie einmal ihr Handy nicht griffbereit hat, um die Polizei zu rufen, schreibt sie der Nachbarin eine Botschaft und wirft sie aus dem gekippten Fenster auf die Straße. Und weinen kann sie sowieso auf Knopfdruck – „das gehört zum Repertoire“.
Ein anderes Mal locken die Betrüger sie außer Haus. Auf dem Supermarkt-Parkplatz soll sie eine fünfstellige Summe übergeben – angeblich, weil ein Verwandter mal wieder einen Verkehrsunfall verschuldet haben soll. Wieder alarmiert Bayer unbemerkt die Polizei, packt ein paar Zettel gut hörbar in eine Papiertüte und lässt die Betrüger glauben, sie habe gerade ihr gesamtes Bargeld eingewickelt.
Sie macht sich auf den Weg und trifft am Supermarkt ausgerechnet die halbe Verwandtschaft. „Die wussten natürlich nicht, was da gerade vor sich geht“, erzählt sie lachend. „Nachdem ich sie harsch und ganz knapp weggeschickt hab, hab ich noch aus dem Augenwinkel gesehen, wie sie beim Gemüse vorne zusammenstanden und die Köpfe über mich geschüttelt haben. Die dachten bestimmt: Jetzt spinnt sie komplett.“ Überhaupt, die Verwandtschaft. Die könne nicht verstehen, warum Bayer so gerne Verbrecher jagt. „Die haben Angst um mich. Aber was soll mir schon geschehen?“
Mit Bewunderung für ihren Mut kann Bayer nichts anfangen. Auf die Frage, woher sie die Courage nimmt, sich Verbrecherbanden entgegenzustellen, sagt sie nur: „Ach was“ – mit einer Handbewegung, als wolle sie das Kompliment schnell wegwischen. „Man muss sich nur dumm stellen können und trotzdem clever sein. Ich war als Kind immer das einzige Mädchen unter vielen Jungs, da wird man mutig, ganz automatisch.“
Angst habe sie keine, wenn die Gauner klingeln. „Ich hab nur Angst, dass mir einer entwischt. Dass auffliegt, dass ich die Polizei alarmiert habe und das Gespräch beendet wird. Ich will nicht, dass mir auch nur einer durch die Lappen geht.“
Viele Senioren verlieren ihr Erspartes
Bayer weiß, wie viele ihrer Altersgenossinnen und Altersgenossen das ein Leben lang Ersparte verlieren, weil sie den immer neuen Betrugsmaschen aufsitzen. „Diese Ungerechtigkeit kann ich kaum aushalten. Unsere Generation hat sich so viel aufgebaut, sich das Leben am Mund abgespart – und dann kommen Betrüger und nehmen den Leuten alles, was sie haben? Das ist schrecklich.“
Diese sogenannten Vermögensschäden für den Bereich Callcenter-Betrug summieren sich zu Millionenbeträgen. „Die grundsätzliche Masche der Täter ist jeweils gleich“, schreibt die Polizei. „Sie versuchen die Opfer durch ihre erfundene Hintergrundgeschichten in emotionale Ausnahmesituationen zu versetzen, um sie so zur Übergabe hoher Geldbeträge an fremde Personen beziehungsweise zum Überweisen an fremde Bankkonten zu bewegen.“
„Jeden Morgen steht einer auf und überlegt sich eine neue Geschichte, um die Leute um ihr Geld zu bringen.“Die Polizei über die Gefahr durch Betrüger
Die Chancen, sein Geld wieder zurückzubekommen, seien sehr gering, sagt der zuständige Kommissariatsleiter. Die Lösung könne nur die Prävention sein: Informationskampagnen, Kooperation mit Banken, die kritisch nachfragen, wenn ältere Menschen höhere Summen abheben. „Aber man muss auch sagen: Jeden Morgen steht einer auf und überlegt sich eine neue Geschichte, um die Leute um ihr Geld zu bringen.“
Wie sich die ganze Welt digitalisiere, täten dies auch die Verbrecher: „Die Handtasche aus dem Auto klauen heute nur noch die Dummen“, sagt der Kripo-Beamte. „Gewiefte Gauner können mit ein paar Schnipseln Sprachaufnahme mittels KI die Stimme eines Verwandten fälschen, es kommt immer was Neues dazu. Oft sitzen die Hintermänner im Ausland und haben hier ihre Handlanger, die dann die Arbeit vor Ort erledigen und dann hier vor Gericht landen.“
Die Fälle bleiben ihr in Erinnerung
Dort, sagt Bayer, zeige sich dann meist das ganze Bild. Besonders der Fall einer jungen Frau, gegen die sie aussagen musste, ist ihr in Erinnerung geblieben. „Sie tat mir leid. Das ganze Leben eine einzige Katastrophe, irgendwann hat sie ihre eigene Großmutter bestohlen und ist bei den Kriminellen gelandet. Die hätte man an die Hand nehmen und viel eher da rausholen müssen.“
Eine Botschaft, die die 84-Jährige dem sechsten Betrugsanrufer, der vor einiger Zeit bei ihr anrief, mitgegeben hat. „An dem Tag war ich nicht ganz auf der Höhe“, sagt Bayer. „Als das Telefon geläutet hat und ich gemerkt hab, dass es wieder einer versucht, hab ich dem gleich gesagt: ,Junger Mann, ich weiß, was du vorhast. Heute nicht, ich bin ein bisschen krank. Aber jetzt überleg dir, was du mit deinem Leben anfängst. Hör auf mit dem Mist und such dir eine richtige Arbeit. Wenn ich heute etwas fitter wäre, wärst du heut Abend in U-Haft. Also komm, nutz die Chance!‘“
So reagieren Sie am besten
Unfall, Krankenhaus, Überfall: Kommt ein Anruf, in dem es um eine vermeintliche Notsituation oder eine Katastrophe geht, sollte man erst einmal skeptisch sein. Vor allem, wenn es dann schnell darum geht, mit einer Geldüberweisung zu helfen. Die Verbraucherzentrale Bremen gibt folgende Tipps:
- Versuchen Sie, trotz der Stresssituation ruhig zu bleiben und treffen Sie keine überstürzten Entscheidungen, auch wenn Sie am Telefon unter Druck gesetzt werden, und geben Sie keine persönlichen Informationen preis.
- Das Gespräch erst einmal beenden und den vermeintlich Anrufenden unter einer bekannten Nummer zurückrufen, um sich zu vergewissern, dass der oder die Betreffende tatsächlich angerufen hat, und dass wirklich eine Notlage besteht.
- Im Gespräch unbedingt Fragen nach Orten, Dingen oder Begebenheiten stellen, die nur der jeweilige Mensch beantworten kann – wenn er es denn wirklich ist. Ruhig auch dumme Fragen einschieben, die nichts mit dem bisherigen Gespräch zu tun haben. Das kann Betrüger und KI aus dem Konzept bringen.
- Mit nahestehenden Menschen ein geheimes Codewort verabreden, das man im Zweifel abfragen kann, um echte von gefälschten Hilferufen am Telefon sicher unterscheiden zu können.
- Notieren Sie Datum, Uhrzeit und die genauen Umstände zweifelhafter Anrufe, am besten auch die Rufnummer, falls diese angezeigt wird, und erstatten Sie Strafanzeige bei der Polizei. (dpa)