Herr Engelsing, Sie haben einen bisher wenig beachteten Aspekt im Schicksal des Hitlerattentäters Georg Elser aufgegriffen und gefragt: Was wäre eigentlich passiert, wenn es Elser in die Schweiz geschafft hätte?

Georg Elser ist nach dem Attentat über Lindau mit dem Schiff nach Konstanz gefahren. Er kannte die Stadt gut, er hatte mehrere Jahre als Schreiner am Bodensee gearbeitet. Und er dachte: An der Schwedenschanze steht zwischen Deutschland und der Schweiz nur ein kleiner Zaun – da kann ich rüber springen.

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Tobias Engelsing, Dr. phil, leitet seit 2007 die vier Städtischen Museen in Konstanz (Rosgartenmuseum, Hus-Museum Konstanz, Städtische ...
Tobias Engelsing, Dr. phil, leitet seit 2007 die vier Städtischen Museen in Konstanz (Rosgartenmuseum, Hus-Museum Konstanz, Städtische Wessenberg-Galerie, Bodensee-Naturmuseum) Er hat 2009 das Denkmal für Elser an der Schwedenschanze initiiert. Seine Publikation zum „Alltagsleben im Nationalsozialismus“ ist im Buchhandel und im Rosgartenmuseum erhältlich. | Bild: Scherrer, Aurelia

Diese Annahme wurde ihm zum Verhängnis.

Ja, der Zaun war höher geworden. Elser zögerte einen Moment. Dieser Moment war zu lang. Er wurde von zwei deutschen Zöllnern geschnappt.

In der Elser-Forschung geht man davon aus: Wenn er es nur geschafft hätte, hätte er überlebt.

Das war die nie überprüfte Hypothese. Das wollte ich mal genauer ansehen. Ich schaute mir die damalige Rechtslage an: Wie war Deutschland mit der Schweiz verbunden? Wie ging man mit Straftätern um, die hüben oder drüben gesucht wurden? Außerdem las ich die Berichterstattung zum Attentat in Schweizer Tageszeitungen, etwa im „Landboten“ in Winterthur, einer der ältesten liberalen Zeitungen der Schweiz.

Zu welchem Ergebnis kamen Sie?

Georg Elser wäre in der Schweiz nicht als politischer Flüchtling anerkannt worden. Sondern als ein mutmaßlicher Gewaltverbrecher. Er hatte ein Attentat auf den Staatschef eines befreundeten Staates verübt. Auf ein Auslieferungsbegehren hin wäre er höchstwahrscheinlich ausgeliefert worden.

Die Uhrenfabrik in der Fischenzstraße 1, in der Elser einige Jahre lang als Schreinergeselle Holzgehäuse für Uhren baute.
Die Uhrenfabrik in der Fischenzstraße 1, in der Elser einige Jahre lang als Schreinergeselle Holzgehäuse für Uhren baute. | Bild: Rosgartenmuseum Konstanz

Sie haben den Band „Sommer ‚39 – Alltagsleben im Nationalsozialismus“ mit diesen Informationen erweitert und neu aufgelegt.

Auch, um zu zeigen, wie ambivalent die Haltung der Schweiz war: Das Land war wirtschaftlich vom Deutschen Reich abhängig. Bis Juni 1940 bestand die Sorge, dass sich Hitler die Schweiz doch noch einzuverleiben könnte. Man trieb also Handel und kam dem Reich auch politisch sehr entgegen, das war ein zweckdienlicher Opportunismus.

Aus Angst?

Ja, natürlich, man wollte ein freies Land bleiben. Man darf auch nicht vergessen: Es gab in der Schweiz auch Kräfte, die große Sympathien für das Vorbild Deutschland hatten. Die rechtsradikalen „Frontisten“ votierten für einen Anschluss an Deutschland. Das hat die liberale Schweiz verunsichert: man hatte im eigenen Land eine „fünfte Kolonne“.

Ort des ersten Verhörs: das Konstanzer Hauptzollamt am Kreuzlinger Zoll. Diese Aufnahme stammt aus den 1950er-Jahren.
Ort des ersten Verhörs: das Konstanzer Hauptzollamt am Kreuzlinger Zoll. Diese Aufnahme stammt aus den 1950er-Jahren. | Bild: Rosgartenmuseum Konstanz

Doch es gab auch mutige Leute.

Ja. Beispielsweise im Kanton Genf haben protestantische Kirchengemeinden jüdische und politische Flüchtlinge versteckt, in St. Gallen half ihnen Polizeikommandant Grüninger. Ganz anders der Kanton Thurgau: Da herrschte eine flüchtlingsfeindliche Haltung. Der Bund war klar abwehrend: Keine Juden ins Land! Aber man muss immer genau hinschauen, die historische Wahrheit ist vielschichtig und oft verborgen.

Und wenn Elser es nach Genf geschafft hätte?

Es kann sein, dass er sich eine Weile hätte verstecken können. Aber wir müssen bedenken: Er wollte sich in der Schweiz zu seiner Tat bekennen. Er wollte sagen: Ich war der Attentäter. Ein offizielles Rechtshilfeersuchen an die Schweiz durch Deutschland und ruckzuck wäre er wohl „überstellt“ worden. Das war und ist üblich unter befreundeten Staaten.

Ein deutscher Soldat, der den Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen bewacht: von solchen Grenzwächtern wurde Elser geschnappt.
Ein deutscher Soldat, der den Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen bewacht: von solchen Grenzwächtern wurde Elser geschnappt. | Bild: Rosgartenmuseum Konstanz

Und wenn er sich nicht bekannt hätte?

Klar, wenn er rüber gesprungen wäre und gesagt hätte: „Ich bin kommunistischer Handwerker und werde von der Gestapo verfolgt.“ Vielleicht hätte er in St. Gallen oder in Genf Glück gehabt. Im Thurgau sicher nicht.

Ist Elser für Sie ein Held?

Ich hab es mit den Helden nicht so. Wenn man Historiker ist, kennt man die „Helden“ sozusagen auch in Unterhosen, bildlich gesprochen. Aber Elser ist ein bedeutender Mann des Widerstands: Er war erstaunlich hellsichtig. Einer, der schon 1938 erkannt hat, dass Hitler Krieg führen und das Land damit in den Untergang treiben wird. Andere waren zu dieser Zeit noch fest davon überzeugt, dass Hitler Deutschland zu ungeahnter Größe führen werde.

Die Elserbüste.
Die Elserbüste. | Bild: Rosgartenmuseum Konstanz

Wie war Elser, wie muss man sein, um diesen Mut aufzubringen?

Er war ein bisschen verschroben, manchmal verschlossen. Doch die Frauen mochten ihn. Seine Eigenwilligkeit ist beachtlich: Den Mut zu haben, eine Steinsäule im Parteilokal von Hitler auszuhöhlen, einen Höllenapparat einzubauen, der diesen Kerl in die Luft sprengt: Wer bringt so etwas? Natürlich kann man Elser nicht eins zu eins als Vorbild für die Jugend von heute aufhübschen: Der Tyrannenmord ist immer das allerletzte Mittel, wenn andere Abhilfe gegen einen Verbrecher an der Staatsspitze nicht mehr möglich ist.

Das war damals so?

Damals hatte Elser in der Tat kaum mehr andere Möglichkeiten. Der Rechtsstaat war beseitigt, die Justiz auf Linie, die Ermittlungsbehörden parteiisch. Insofern ist er eine singuläre und mutige Persönlichkeit, an die wir erinnern sollten.

Das Innenleben von Georg Elsers Bombe, gegen das laute Ticken der Uhr gut isoliert.
Das Innenleben von Georg Elsers Bombe, gegen das laute Ticken der Uhr gut isoliert. | Bild: Rosgartenmuseum Konstanz

Was kann die Stadt von ihm lernen?

Es war an der Zeit, diesem Elser 2009 einen Erinnerungsort zu schaffen. Es ist auch in der blitzblanken Touri-Stadt Konstanz unsere fortdauernde Aufgabe an Menschen zu erinnern, die unter extremer Selbstgefährdung so mutig waren, für die Freiheit einzustehen.

Wer sind für Sie heutige Helden?

Herausragende Persönlichkeiten, das sind für mich etwa Menschen, die sich an außerordentlich gefährlichen Orten der Welt engagieren und die an die Wendung zum Besseren glauben: Ärzte in Krisengebieten, Journalisten, die in korrupten Staaten recherchieren, oder Menschen, die sich um die Ärmsten der Welt kümmern.

Klingt, als ginge es uns zu gut für Helden?

Ach, so fern sind Orte nicht, die friedfertige Mutige brauchen: Mutig ist, wer in der Türkei das Wort für den freiheitlichen Rechtsstaat erhebt, wer in Russland oder China demonstriert, im Iran Reformen einfordert oder gegen die globale Müllmafia recherchiert. Das sind vorbildhafte Menschen. Wir in Deutschland müssen zum Glück nicht wie Elser unser Leben riskieren. Es würde schon reichen, sich mehr für die freiheitliche Demokratie einzusetzen, etwas mehr für‘s Gemeinwesen zu leisten, und deutlich mehr für‘s Klima zu tun.