Homeschooling, Online-Seminare, Web-Shopping: Die Welt ist seit Beginn der Corona-Pandemie noch digitaler geworden. Für viele ist das praktisch – andere spüren dadurch noch mehr, wie stark sie ausgegrenzt sind. Denn für diese Menschen flimmert nur ein bunter Buchstabensalat auf dem Bildschirm: Sie sind funktionale Analphabeten. Knapp 22.000 von ihnen leben laut Berechnungen im Landkreis Konstanz.
Manche lernten nie Lesen und Schreiben, andere haben diese Fähigkeit wieder verloren. Jeder funktionale Analphabet findet seinen eigenen Weg, damit umzugehen. Die einen erfinden Ausreden wie „Ich habe meine Brille vergessen“, andere lassen sich Nachrichten von ihrem Handy laut vorlesen, wieder andere belegen einen Kurs der Grundbildung an der Volkshochschule.
Virginia Teixeira hat es geschafft
Dies tat auch Virginia Teixeira. Die 44-jährige Portugiesin kann lesen und schreiben, aber Probleme machten ihr deutsche Rechtschreibung und Grammatik. Sie kam 1993 ohne Deutschkenntnisse nach Konstanz, um in der Gastronomie zu arbeiten. Zuerst verständigte sie sich mit Händen und Füßen, inzwischen spricht sie fließend Deutsch. „Doch ich wollte korrekt sprechen und schreiben, also belegte ich an der VHS einen Grundbildungskurs“, sagt Teixeira.
Momentan bewirbt die zweifache Mutter sich um viele Stellen, hauptsächlich im Verkauf. Aber sie erhält nur Absagen. Ein Grund: „Ich habe keinen Schulabschluss“, sagt sie ganz offen. „Dafür schäme ich mich nicht, denn ich habe zehn Geschwister und in Portugal sind Schule und Studium teuer.“ So besuchte sie die Schule nur bis zur siebten Klasse.

Durch den Grundbildungs- sowie einen Englischkurs an der VHS kann sie eine Weiterbildung zum Umgang mit Computern absolvieren. Virginia Teixeira möchte Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, Mut machen. „Es ist nie zu spät zum Lernen“, sagt die fröhliche Frau.
Analphabetismus und Grundbildung
„Jeder hat das Recht auf Bildung“
Wie wichtig die Grundbildungs- und Alphabetisierungskurse gerade in Pandemiezeiten sind, haben die VHS-Verantwortlichen erkannt. Denn: Haben die Eltern Defizite, können sie auch ihren Kindern nicht beim Lernen zu Hause helfen. Deshalb hat sich die VHS Landkreis Konstanz als eines der Grundbildungszentren (GBZ) Baden-Württembergs mit einigen Projektpartnern zusammengetan und einen Förderschwerpunkt ausgesucht: Family Literacy, also Literalität in der Familie.
Dabei sollen die Lese- und Schreibkompetenzen bei Kindern und Eltern verbessert werden. Denn wer schon früh Zugang zu Büchern hat und viel vorgelesen bekommt, dem fällt es später leichter, gehörte Laute in geschriebene Buchstaben umzuwandeln.

Knut Becker von der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg, betont: „Jeder hat das Recht auf Bildung und Teilhabe. Doch wer nicht alles versteht, kann diese Rechte nicht wahrnehmen. Das hat neben der sozialen auch eine wirtschaftliche Komponente und geht die ganze Gesellschaft etwas an.“ So sieht es auch Theodoros Marinis, Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Konstanz: „Eine gering entwickelte Lese- und Schreibfähigkeit hat Konsequenzen für das ganze Leben. Ohne Hilfe erfährt kein Analphabet, welche Corona-Regeln aktuell gelten oder welche Aufgaben das Kind im Homeschooling erledigen soll.“
Viele schämen sich noch immer für Schwächen
Doch wie kommen die Angebote – etwa niederschwellige Kurse in Konstanz und Stockach – zu den Betroffenen, die davon ja nichts lesen können? Zumal sie sich oft lieber verstecken als Hilfe zu suchen? Laut Laura Pacilli, Leiterin des Grundbildungszentrums Landkreis Konstanz, sind nur rund drei Prozent der Betroffenen direkt erreichbar. Unter anderem aus Scham. Deshalb wollen die Projektpartner Scharnier sein zwischen Analphabeten und Einrichtungen, die mit diesen in Kontakt kommen: Kitas, Schulen, Familienzentren, Ärzte.
„Diese Stellen müssen sensibilisiert werden“, sagt Becker. Viel Vernetzungsarbeit übernimmt Bettina Müller vom Amt für Migration und Integration des Landratsamts. „Das Thema hat große Brisanz“, sagt sie. „Wenn alle Corona-Einschränkungen vorbei sind, stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Dann wird man sehen, wie viele Kinder und Jugendliche ohne Präsenzunterricht abgehängt wurden. Das können wir nur mit einem großen Schulterschluss bearbeiten.“ Amtsleiterin Monika Brumm sagt: „Gerade in den Gemeinschaftsunterkünften fehlt den Kindern das Sprechen auf Deutsch, wenn sie nicht in die Schule gehen.“

Doch es gibt Hoffnung. „Schriftsprache kann in jedem Alter erworben werden“, betont Professor Marinis. Der Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ trifft hier also nicht zu.