Natalie Reiser

Wie kann man dazu beitragen, dass Menschen, die in unserer Region Schutz suchen, sich willkommen fühlen und ihnen eine Brücke in unsere Kultur bauen? Diese Frage beschäftigte Ute Kleeberg seit über einem Jahr. Sie entschloss sich, das zu tun, was sie gut kann: In der Edition See-Igel stellt sie seit 20 Jahren Märchen mit klassischer Musik zusammen.

Für Flüchtlinge aus der arabisch-sprachigen Welt wählte sie eines der von den Gebrüdern Grimm überlieferten Märchen, die seit Jahrhunderten zum deutschen Erzählschatz gehören: Die Geschichte von Rapunzel, dem wunderschönen Mädchen mit den langen blonden Haaren. Ute Kleeberg hat eine CD herausgegeben, auf der die Schauspielerin Eva Mattes den Text ruhig und gefühlvoll liest. Umrahmt sind die Erzählpassagen von Suiten von Johann Sebastian Bach und von syrischen Weisen und Kompositionen für Oud, eine arabische Laute. Konstanze von Gutzeit, Solocellistin des Rundfunk-Orchesters Berlin, spielt die Cello-Stücke. Marwan Alkarjousli, syrischer Komponist und Musiker, hat eigens für die Edition einige Stücke komponiert und auf der Oud gespielt. Der Produktion liegt eine Übersetzung in die arabische Sprache bei. 1000 dieser CDs spendet die Edition See-Igel an Bibliotheken, Schulen und andere Institutionen.

Im Gewölbekeller der Stadtbibliothek wollte Ute Kleeberg nun zusätzlich ein Experiment wagen, erzählte sie, als die Stuhlreihen sich allmählich mit Kindern und Jugendlichen füllten. In Zusammenarbeit mit Petra Wucherer, der Leiterin der Stadtbibliothek, hatte sie einige Integrationsklassen eingeladen. Nach dem Vorbild der CD gestaltete sie eine Lesung, in der sie vom Oud-Spieler Rabee Abou Hassoun begleitet wurde. Die Syrerin Hazar Fahad, die mit ihrem Mann und einem Töchterchen seit zwei Jahren in Radolfzell lebt, hat innerhalb eines Jahres so gut Deutsch gelernt, dass sie die Passagen, die Kleeberg frei erzählte, mühelos verstehen und ins Arabische übersetzen konnte.

Einen vertrauten Text in einer Sprache zu hören, in der man außer dem weich gesprochenen Wort „Rapunsel“ nichts versteht, gibt einen guten Eindruck davon, wieviel Fremdes und Unbekanntes auf Flüchtlingskinder einströmen muss. Doch die meisten von ihnen hoben die Hand, als Ute Kleeberg sie fragte, wieviele von ihnen schon Deutsch verstehen. Gespannt und mucksmäuschenstill verfolgten sie schließlich die Erzählung bis zu ihrem Ende.

Doch die Musik berührte sie wohl am meisten. Als die Saiten der Oud für europäische Ohren sehnsuchtsvoll und fremd erklangen, begannen beinahe alle Kinder sich auf ihren Sitzen im Takt zu bewegen. Einige klatschten und schnippten leise mit den Fingern mit. Und manch ein Jugendlicher bekam feuchte Augen. Letztlich strahlten die Kinderaugen und der Schlusssatz des Märchens bekam im alten Radolfzeller Gemäuer eine ganz eigene Bedeutung: „Doch die Kraft der Liebe ist stärker als all der böse Zauber auf der Welt.“

Weitere Veranstaltungen

Ausstellung: Bis zum 23. Dezember sind in der Stadtbibliothek zu den regulären Öffnungszeiten Bilder und Illustrationen des Grafikers und Malers Christian Dierks zu sehen, der die Cover für die CDs der Edition See-Igel zeichnet. Auf dem Cover von Rapunzel ist nicht die üblicherweise abgebildete blonde vom Turm herabwallende Haarfülle zu sehen, sondern appetitmachender Rapunzel-Salat in Großaufnahme.

Märchen-Konzert: Eine weitere Veranstaltung findet am Sonntag, 6. November, um 15 Uhr im Milchwerk statt. Das von Ute Kleeberg arrangierte Märchen-Konzert „Prinzessin Graues Mäuschen“ steht auf dem Programm. Die Schauspielerin Maria Adorf wird das Märchen lesen. Musikalisch begleitet wird sie von einem professionellen Quartett mit Marimbaphon, Violine, Viola und Cello. (rei)