Es gibt sie noch. Diejenigen, die seit einer gefühlten Ewigkeit im Kreistag sitzen und an das Ergebnisoffene in Krankenhausdebatten glauben. Siegfried Lehmann, FGL-Stadtrat in Radolfzell und Kreisrat der Grünen, hat bei einer Pressekonferenz zur Positionierung der Stadt Radolfzell zum Strukturgutachten des Gesundheitsverbunds Radolfzell (GLKN) gesagt: „Singen wird das nicht entscheiden!“ Er meint in diesem Fall, wo das neue Krankenhaus für die alten, maroden Häuser in Singen und Radolfzell gebaut werden soll. Das, hält Lehmann tapfer entgegen, werde der Kreistag entscheiden.
Formal sicher. Nun, es wird aber vielleicht so kommen, wie die drei bestimmenden Herren im GLKN als Mehrheitsgesellschafter das Gutachten für sich gedeutet haben. Konstanz behält sein Krankenhaus, Singen bekommt ein neues (oder behält doch sein altes?), Radolfzell wird dichtgemacht. Dann wird alles gut. Diese Botschaft in Kurzform bemühen sich Landrat Zeno Danner und die Oberbürgermeister Bernd Häusler für Singen und Uli Burchhardt für Konstanz zu verkünden.
Dabei hilft: das Gutachten. Wo das auf Gesundheitsthemen spezialisierte Beratungsunternehmen „Lohfert & Lohfert“ gebucht wird, kommt am Ende die Empfehlung für die Aufgabe von Standorten und die Empfehlung für einen Neubau raus. So lautet das Ergebnis einer Stichprobenerhebung nach Gutachten der AG „Lohfert & Lohfert“. Sei es in Augsburg 2010 oder Expertisen neueren Datums im Kreis Minden-Lübbecke oder im Ortenaukreis.
Das erste Gutachten
Das muss nicht falsch sein und ist nicht neu. Selbst im Kreis Konstanz hat es bereits zwei Gutachten gegeben, deren Rat aus wirtschaftlichen Gründen genau das war: Zentralisierung. Bereits das Beratungsunternehmen Gebera versuchte 2002 den Kreis Konstanz in diese Richtung zu lenken. Landrat Frank Hämmerle sagte damals dem SÜDKURIER: „Jetzt müssen zwischen Konstanz und Singen die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Nach dem Gebera-Gutachten müssen beide Häuser ihr Parallelangebot bereinigen.“ Zwanzig Jahre später lautet die Erkenntnis: Nichts Neues im Westen und Osten des Kreises, Lohfert & Lohfert sagen 2022: „Zahlreiche Doppelstrukturen an den Standorten, insbesondere zwischen Singen und Konstanz, erschweren eine wirtschaftliche Leistungserbringung.“
Das wird mit einer Schließung des Standorts Radolfzell dann garantiert besser, zumindest lenkt sie von den Doppelstrukturen ab. Diese (bittere) Pointe darf aus Sicht der handelnden Mehrheitsgesellschafter natürlich sein. Den Blick zurück mögen sie nicht so gern, denn er legt offen: Die Muster wiederholen sich. Kommt ein (neues) Gutachten, geht es erstmal einem kleinen Krankenhaus an den Kragen.
Die Krake HBH
Zu einem Zusammenschluss der Krankenhäuser im Kreis kam es 2002 noch nicht. Die Stockacher wandten sich im Vergleich lose Konstanz zu, das Radolfzeller Haus schloss sich auf Druck des damaligen OB Jörg Schmidt und mit einer Stimme Mehrheit dem Singener Haus an. Der Preis: Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts über das eigene Krankenhaus, weil Radolfzell kein Minderheitenstimmrecht bekam. Immerhin hing das Mäntelchen „kommunale Einrichtung“ jetzt über dem Eingang.
Die Hegau-Bodensee-Hochrheinkliniken mit Sitz in Singen entwickelten sich zur Krake. Die Häuser in Stühlingen, Bad Säckingen und Bad Bellingen wurden vereinnahmt und damit hätte sich der Mini-Konzern fast verschluckt. Singens damaliger OB Oliver Ehret kommentierte die Schieflage im eigenen Haus vor der zweiten Fusionsdebatte im Kreis dann so: „Häuser, die unserem Verbund geschadet haben, müssen wieder raus“, der Hochrhein müsse sich selbst retten. Singen hätte gescheiter die Finger davon gelassen, sich am Hochrhein auszuweiten, so Ehret.
Nur Überlingen entzog sich den langen Armen der HBH-Kliniken, die Stadt schob den unterschriftsreifen Kooperationsvertrag im Herbst 2006 mit dieser Begründung zurück: Das Überlinger Krankenhaus wolle einen „starken Partner“ finden, sagte der damalige OB Volkmar Weber. Man befürchtete, nur noch Portalklinik für Singen zu werden, also ein Standort, der die Patienten an die HBH-Kliniken weiterschleusen sollte. Überlingen wählte als Krankenhausbetreiber den Helioskonzern.
Zwei Jahrzehnte später ist der Charme eines kommunalen Betreibers für die Stadt Radolfzell verflogen. Überlingen hat knapp 23.000 Einwohner, Radolfzell 32.000. Überlingen hat ein Krankenhaus, Radolfzell hat bald keines mehr. Helios betreibt das Überlinger Spital nach Eigenangaben mit 400 Mitarbeitern und 25.000 Patienten jährlich. Helios, das ist jener privatwirtschaftliche Gesundheitskonzern, den Radolfzell 2002 als Betreiber verschmäht hat. Kommunal ist besser? Der Blick zurück schmerzt aus Radolfzeller Sicht. Nicht nur auf das Jahr 2002, auch auf die gefeierte Kreisfusion der HBH-Kliniken mit den Konstanzer Kliniken zum Gesundheitsverbund im Jahr 2012.
Das zweite Gutachten
Wieder einmal gab es ein Gutachten im Vorfeld, dieses Mal von der Pricewaterhouse Company (PWC). Auch deren Berater empfahlen bei der Vorlage ihres Gutachtens 2010, das Angebot im Krankenhausbereich im Kreis zu konzentrieren. Das von den Fachleuten bevorzugte Modell sah nur zwei Häuser für die allgemeine stationäre Versorgung vor (Konstanz und Singen). Die Konstanzer Vincentius-Fachklinik für Orthopädie sollte nach Radolfzell umziehen. Wirtschaftsprüfer Armin Albat befand, dass Wachstum der einen Klinik im Kreis nur zu Lasten einer anderen gehen könne. Den großen Anbietern Konstanz und Singen bescheinigte er nahezu identische Leistungsstrukturen.
Prophetisch äußert sich Dietmar Baumgartner, Stadtrat und Kreisrat der Freien Wähler aus Radolfzell. Er sah das Angebot der eigenen Klinik gefährdet, wenn es zu einer kreisweiten Lösung zusammen mit Singen und Konstanz kommen sollte. „Die beiden großen Häuser werden sich schwer tun, auf lukrative Angebote zugunsten des anderen zu verzichten. Ob und was dabei für Radolfzell übrig bleibt, ist schwer vorherzusagen.“ Das sagte Baumgartner im Jahr 2010. Denn in einer kreisweiten Lösung hätte Radolfzell einen kleinen Anteil und wenig Mitspracherecht: „Radolfzell hat keine Chance, sich gegen Singen durchzusetzen.“
Hämmerle und die kommunalen Befindlichkeiten
Landrat Hämmerle knüpfte derweil die machtpolitischen Fäden zusammen. Politik begänne mit der Wahrnehmung der Realität, dozierte Hämmerle und gab die Marschroute aus: Sollten die Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft bleiben, gebe es nur die Möglichkeit einer kreisweiten Lösung. Dafür müssten aber kommunale Befindlichkeiten ausgeschaltet werden.
Die Fusion kam. Aber Stockach bestand auf „kommunale Befindlichkeiten“ und scherte aus mit einem eigenen städtischen Krankenhaus. Engen blieb im Verbund und hat heute ein medizinisches Versorgungszentrum. Radolfzell hat auf der Abwrackseite die Schließung der Geburtenstation und das Ausbluten der Chirurgie mit Verkürzung der OP- und Ambulanzzeiten. Auf der Guthabenseite hat das GLKN nach Auskunft der Geschäftsführung seit 2012 in den Standort Radolfzell 5,2 Millionen Euro investiert, darunter 670.000 Euro in ein ambulantes OP-Zentrum und 640.000 Euro in den Brandschutz. Im gleichen Zeitraum sind in Singen 37,3 Millionen Euro investiert worden. Größte Projekte waren der Masterplan IT mit über sechs Millionen und das Parkhaus mit knapp drei Millionen Euro.
Das dritte Gutachten
Für Radolfzell bleiben nach der Vorlage des dritten Gutachtens zur Krankenhaussituation im Kreis drei Erkenntnisse: Das kommunale Dach ist genau so betriebswirtschaftlich orientiert wie jeder private Gesundheitskonzern, eine echte Chance hat der Gesundheitsverbund dem Haus auf der Mettnau wohl nicht gegeben, und wenn das Krankenhaus in Radolfzell längst geschlossen ist – die Doppelstrukturen in Singen und Konstanz werden noch länger bestehen, so die Erfahrung. Wahrscheinlich bis zum vierten Gutachten. Vielleicht sitzt Siegfried Lehmann noch in zehn Jahren im Kreistag und darf ein bisschen mitentscheiden, welcher Standort dann geschlossen werden soll.

Wenn die Lehre der reinen Betriebswirtschaft nicht den Auftrag des Kreistags erfüllt
Fusions- und Trägerverhandlungen 2002: Das medizinische Personal im Radolfzeller Krankenhaus, der Krankenhausförderverein und die Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer unterstützten eine Lösung mit dem Gesundheitskonzern Helios als Betreiber. OB Jörg Schmidt setzte nach dem Ablauf des Vertrags mit Helios auf eine kommunale Lösung. Die Bürgermeisterstelle von Isabel Fezer wurde 2004 gestrichen, es kam zu keiner Wiederwahl.
Fusions- und Gutachterdiskussion 2010 bis 2012: Für die Gutachter von PWC hagelte es Kritik. Weil sie mit ihrem Vorschlag der Zentralisierung nicht lieferten, was gewollt war. Johannes Moser, Bürgermeister in Engen und Hausherr eines kleinen Krankenhauses, sagte: „PWC hat die Krankenhauslandschaft im Landkreis nach streng betriebswirtschaftlichen Kriterien betrachtet, allerdings damit nicht den Auftrag des Kreistages erfüllt. Wir wollten ein dezentrales Krankenhauskonzept, wobei die kleineren Krankenhäuser erhalten bleiben.“
Die Erkenntnisse im dritten Gutachten 2022 von Lohfert & Lohfert sind fast die gleichen, sie kommen nur neu formuliert auf den Tisch. Allerdings hebt dieses Gutachten besonders auf die Personalsituation ab: Teile des Personals – „insbesondere die leitende ärztliche Ebene“ – könnten sich aufgrund der fehlenden Attraktivität abwenden, „dies bedeutet erheblich Mehrbelastung für das verbleibende Personal und gefährdet den Betrieb“. In einer neuen Klinik könnten die Arbeitsbedingungen attraktiver gestaltet werden, versichern die Berater. Ist es gar nicht das fehlende Geld, sondern das fehlende Personal, das zum zentralen Krankenhaus zwingt? (bec)