Wenn es die Kunst verlangt, macht ein Ingenieur auch das: Wegen Christo und Jeanne-Claude hat Jörg Tritthardt die Prüfung zum Klettern am Reichstag abgelegt. „Ich wollte unbedingt den Stoff mit selber ausrollen helfen und sehen, ob und wie es an der Wand funktioniert“, sagt der Ingenieur aus Radolfzell.

Jörg Tritthardt zeigt in seinem Büro in Radolfzell die Materialien für die Verhüllung des Triumphbogens in Paris. Während der Stoff fast ...
Jörg Tritthardt zeigt in seinem Büro in Radolfzell die Materialien für die Verhüllung des Triumphbogens in Paris. Während der Stoff fast identisch ist mit dem der Reichstagsverhüllung, werden in Paris rote Seile statt blaue das Tuch formen. | Bild: Jarausch, Gerald

Funktioniert hat es im Sommer 1995. Eines der größten Kunstabenteuer steuerte auf seine Vollendung zu: Die Verhüllung des Reichstags oder „Wrapped Reichstag Berlin 1971-1995“, wie das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude ihr Werk nannten.

Vor 25 Jahren ein magischer Moment und ein Publikumsmagnet: Der verhüllte Reichstag lockte 1995 zahlreiche Menschen nach Berlin.
Vor 25 Jahren ein magischer Moment und ein Publikumsmagnet: Der verhüllte Reichstag lockte 1995 zahlreiche Menschen nach Berlin. | Bild: Jarausch, Gerald

Was braucht es für einen Stoff, was braucht es für eine Konstruktion?

Die Jahreszahl 1971 steht für den Start der Idee mit ersten Skizzen, 1995 für das Ereignis. Die Christos brauchten einen langen Atem und viel Überzeugungsarbeit, bis der Bundestag im Februar 1994 seine Zustimmung gab. Eines hat die lange Diskussion bewirkt, das Projekt war bekannt.

Im Büro IPL (Ingenieurplanung Leichtbau) in Radolfzell diskutierten die Mitarbeiter: Was braucht es für einen Stoff, was braucht es für eine Konstruktion, damit die Verhüllung gelingt?

Die Künstler Christo und Jean-Claude stehen hinter dem Modell des verhüllten Berliner Reichstags.
Die Künstler Christo und Jean-Claude stehen hinter dem Modell des verhüllten Berliner Reichstags. | Bild: dpa

Der Ehrgeiz war groß

Das ist Ingenieursaufgabe. Tritthardt berichtet: „Wir waren damals das größte deutsche Büro, das sich mit textilen Konstruktionen beschäftigt hat.“ Der Ehrgeiz war groß, dabei zu sein. Firmeninhaber Harald Mühlberger, der jemand kannte, der die Christos kannte, sei es kurz darauf bei einer USA-Reise gelungen, die Christos in Manhattan zu besuchen und von den Fähigkeiten seines Büros zu überzeugen. Mühlberger kam mit dem Auftrag zurück, „er soll mal anfangen“.

Fotografische Erinnerung an den fertig verhüllten Reichstag: Jörg Tritthardt (links) und Hartmut Ayrle vom Team des Planungsbüros IPL ...
Fotografische Erinnerung an den fertig verhüllten Reichstag: Jörg Tritthardt (links) und Hartmut Ayrle vom Team des Planungsbüros IPL aus Radolfzell rahmen das Künstlerpaar Jeanne-Claude und Christo ein. | Bild: privat

Vier Wochen später verunglückte Harald Mühlberger bei einem Autounfall tödlich. Ohne Chef stand die Frage im Raum: Geht es mit dem Christo-Projekt weiter? „Für uns stand fest: Natürlich machen wir weiter“, erinnert sich Tritthardt. Er selbst sei nach dem Studium genau aus diesem Grund zu diesem Büro gestoßen: „Ich suchte eine etwas andere Aufgabe.“ Hier war sie.

Tritthardt entwickelte den Zuschnitt Textil

Hartmut Ayrle übernahm die Projektleitung für IPL, die Kollegen im Büro planten die Stahlunterkonstruktion, Jörg Tritthardt entwickelte den Zuschnitt Textil. Die Aufgabe sei wie maßgeschneidert für ihn gewesen. Seine Mutter sei Schneiderin, der Vater Mechaniker gewesen: „Ich habe von Kindesbeinen an gelernt zu nähen und das Schweißgerät ist mir an die Hand gewachsen.“

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Der Stoff für die Verhüllung des Reichstags stand fest, die Basis war industrielles Filtergewebe. Nur das Wie war offen. Was macht der Wind mit dem Stoff, wie kann man die Seile am Gebäude festhalten, was braucht es für eine Unterbaukonstruktion? Das waren die Fragen, deren Antworten sie anhand von dreidimensionalen Modellen mit einem Computerprogramm berechneten.

Auf dem Gebäude der Computergesellschaft Konstanz wurde 1994 der Stoff für den verhüllten Reichstag getestet.
Auf dem Gebäude der Computergesellschaft Konstanz wurde 1994 der Stoff für den verhüllten Reichstag getestet. | Bild: privat

Nach über einem Jahr Rechnen und Prüfen, einem Probedurchgang in Konstanz und arbeiten von früh bis spät reisten Ayrle und Tritthardt nach Berlin. In einen Hangar auf einem stillgelegten Flughafen im Umland waren Stoffe und Seile angeliefert worden, sie wurden gefaltet und gerollt.

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Mit 100 000 Quadratmetern Stoff zum Reichstag

Zusammen mit den anderen Industriekletterern trainierte Tritthardt die Abläufe und die Berufsgenossenschaft bescheinigte ihm die Eignung zum Abseilen. Danach ging es im Lkw-Konvoi und mit 100 000 Quadratmetern Stoff zum Reichstag. Am Kletterseil, 36 Meter über dem Boden, konnte der Ingenieur Hand an das Kunstwerk legen: „Entweder man ist mit Leib und Seele dabei oder soll es lassen.“

Tritthardt erinnert sich gern an die Tage in Berlin: „Es war beeindruckend, wie die Leute reagiert haben.“ In heiterer Stimmung blieben sie vor dem Reichstag stehen. „Sie kamen nach der Oper, nach dem Fußballspiel und schauten begeistert auf das Farbenspiel, so wie es Christo sich gewünscht hatte.“ Während der Verhüllung gab es einen Bereich für Mitarbeiter des Projekts. Christo und Jeanne-Claude hätten dort Gäste wie die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth empfangen. Sie holten dann Leute an ihren Tisch: „Das ist unser Ingenieur für die Stoffbahnen.“

Zu seinem letzten Projekt hat Christo erneut Jörg Tritthardt in sein Team geholt, die Verhüllung des Triumphbogens in Paris. Wieder berechnet er den Zuschnitt der Stoffe und plant den Sitz der Seile. Schon vor Christos Tod Ende Mai war dessen Neffe Vladimir Javacheff technischer Leiter, er vollendete das Projekt.

Vladimir Javacheff, Neffe des verstorbenen bulgarischen Künstlers Christo, steht vor dem Arc de Triomphe. Für ihn ist die Verhüllung des  ...
Vladimir Javacheff, Neffe des verstorbenen bulgarischen Künstlers Christo, steht vor dem Arc de Triomphe. Für ihn ist die Verhüllung des Pariser Triumphbogens mit viel Emotionen verbunden. | Bild: Stephane De Sakutin (AFP)

Auch ihn kennt Tritthardt von der Zusammenarbeit beim verhüllten Reichstag. Die Arbeit mit Christo und dessen Team hat Tritthardt in seiner Einstellung bestärkt: „Als Idealist durchs Leben zu gehen – nichts ist unmöglich!“

Nach Jahren der Vorbereitung war es im September 2021 endlich soweit: Gebäudekletterer seilen sich bei der Verhüllung des Arc de ...
Nach Jahren der Vorbereitung war es im September 2021 endlich soweit: Gebäudekletterer seilen sich bei der Verhüllung des Arc de Triomphe ab und bringen 25 000 Quadratemetern recyclebaren, silberblauen Stoff an, der in Deutschland hergestellt wurde. | Bild: Thomas Samson (AFP)

Der Probewurf in Konstanz

  • Das Künstlerpaar: Christo und Jeanne-Claude haben die Welt mit ihren Installationen und Verhüllungen wie dem Reichstag 1995 zum Staunen gebracht. Christo erhielt 2014 den Theodor-Heuss-Preis wegen seiner subtilen Provokation am monumentalen Werk und damit der Kunst als Politik. Beide sind am 13. Juni 1935 geboren, Jeanne-Claude starb am 18. November 2009, Christo am 31. Mai 2020 in New York.
  • Der verhüllte Reichstag: Vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 ist das geschichtsträchtige Gebäude in Berlin komplett mit einem silbrig glänzenden Kunststoffgewebe verhüllt worden. Bei einem Probewurf auf dem Gebäude der Computergesellschaft Konstanz im Sommer 1994 wurde die Montagetechnik, die Farbe und der Durchmesser der Seile getestet. Der Reichstag in Berlin misst auf dem Dach eine Höhe von 32,2 Metern, die Türme ragen 42,5 Meter in die Höhe. Das Gebäude ist 136 Meter lang und 96 Meter breit. Die Länge des Webgarns betrug 70 546 Kilometer. Größer als alle technischen Daten war die Wirkung: Die Schönheit der temporären Skulptur faszinierte.
  • Die Politik und das Kunstwerk: Es gab ein langes Tauziehen zwischen dem Künstlerpaar und den Verantwortlichen in der Bundesregierung und der Stadt Berlin. Die Christos hatten den „Wrapped Reichstag“ fast abgeschrieben, da brachte ein Brief der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth an das Künstlerpaar im Dezember 1991 die entscheidende Unterstützung. Die Christos versuchten Politiker aller Fraktionen zu überzeugen, bei Bundeskanzler Helmut Kohl und dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble gelang das nicht. Hans-Peter Repnik, damals CDU-Abgeordneter für den Kreis Konstanz und Verfechter des Projekts, erinnert sich: „Ich betrachtete das als Riesenchance für Berlin, die Gegner sahen die Würde des Hauses gefährdet.“ Am 25. Februar 1994 stimmte der Bundestag mit großer Mehrheit für das Projekt.
  • Ayrle und Tritthardt: Die IPL-Ingenieure Hartmut Ayrle und Jörg Tritthardt haben nach dem verhüllten Reichstag lange gemeinsam in einem Büro zusammengearbeitet. Heute ist Professor Hartmut Ayrle Leiter des Stadtplanungsamts in Bruchsal, Jörg Tritthardt führt zusammen mit seinem Partner Dirk Richter in Radolfzell ein Büro für Leichtbau. Sie haben das Zwischendach für das Olympiastadion in Sotschi konstruiert. Weitere Beteiligte am Projekt im Büro IPL waren Wolfgang Renner, Roland Gerster, Michael Kiefer, Birgit Klopfer, Udo Rutsche, Gerd Schmid, Bernd Stimpfle, Jürgen Trenkle, Hans-Jürgen Weißer.
  • Wrapped L‘Arc de Triomphe: Der Triumphbogen in Paris bleibt nach Entwürfen von Christo vom 18. September bis 4. Oktober 2021  verhüllt. 
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