Singen wächst. Das ist eine unbestrittene Tatsache. Aber 100 000 Einwohner? Im Jahr 2019, 120 Jahre nach der Wandlung vom Dorf zur Stadt, kratzt die Einwohnerzahl an der 50 000er Marke. Das ist immer noch weit entfernt von den Fantasien des legendären Stadtbaumeisters Hannes Ott, der der autogerechten Stadt ein utopisches Wachstum voraussagte. Entsprechend brutal waren aus heutiger Sicht seine Stadt- und Straßenplanungen. Ein wesentliches Planungsinstrument war historischen Aufzeichnungen und Zeitzeugenberichten zufolge die Abrissbirne. Folgte das Stadtparlament diesen zum größten Teil unter Verschluss gehaltenen Ideen zunächst weitgehend kritiklos, so regte sich Ende der 1960er Jahre erster Widerstand einzelner Stadträte und anderer Meinungsträger.
Im Mai 1970 berichte der SÜDKURIER von der Konstitution eines „für Singen neuartigen Bauforums„, wie Historiker Franz Hönig in seiner Dokumentation aus dem Jahr 2012 schreibt. Die Initiatoren wollten Schluss machen mit der Hinterzimmerpolitik und die Öffentlichkeit frühzeitig über größere Planungen informieren. Doch bis zum Eintrag ins Vereinsregister sollte es noch zwei Jahre dauern. Am 23. Juni 1972 war das „Singener Bauforum„ mit Hans Greschniok, Bernd Budszinski und Gudrun Breyer amtlich. Gründungsmitglieder waren der Stadtrat Anselm Dietrich, Georg Breyer, Alexander Bölle, Kurt Burkart, Max Kappeler, Anselm Mayer-Kraupp, Franz Hellmut Schürholz und Joachim Oexle. Alleine vier von ihnen waren Architekten. Sachverstand war also vorhanden. Sich gegen die Pläne der Stadtverwaltung zu stellen, erforderte einiges an Mut und war mit zahlreichen Anfeindungen verbunden. Doch der Einsatz sollte sich lohnen.

Singen würde heute anders aussehen, wenn das Bauforum nicht interveniert hätte: Der Hohgarten würde unter den Stelzen einer Hochtrasse Richtung Weststadt verschwinden. Durch das Münchriedgelände würde eine 55 Meter breite Straße zu einem neuen Stadtteil mit 2000 Bewohnern führen. Im Aachried würden möglicherweise Flugzeuge auf einem Regionalflughafen starten und eine Kreisstraße würde direkt durchs Hausener Aachried führen. Dass es dazu nicht kam, ist den Mitgliedern des Bauforums zu verdanken, die mittlerweile auch den Naturschutz auf ihrer Seite hatten.

Freunde hatten sich die frühen Aktivisten mit ihrem Widerstand gegen die auf dem von 1956 basierenden Flächennutzungsplan beruhenden Planungen nicht gemacht. Und nicht immer gelang es den streitbaren Bürgern, ihre Ziele durchzusetzen. So unterlagen sie mit ihrem Versuch, eine Kleingartenanlage im Römerziel zu verhindern. Auch die Rettung des alten Forsthauses im Bruderhofgebiet scheiterte. Es musste einer großen Neubausiedlung im Singener Norden weichen. Immerhin hatten 710 Personen mit ihren Unterschriften für dessen Erhalt gestimmt.

In Singen immer noch häufig angefeindet und als Bremser gesehen, fand das Bauforum auf Landesebene früh Anerkennung. 1978 zeichnete Ministerpräsident Hans Karl Filbinger die Rebellen im Rahmen eines Landeswettbewerbs als eine von 48 Bürgeraktionen für den Einsatz zur Erhaltung des Bohlinger Ortsbildes aus. Die basisdemokratische Bewegung befand sich im Aufwind. Auch wenn sich das Bewusstsein in der Öffentlichkeit und der Geist in der Verwaltung langsam zu wandeln begann: emotional blieb es rund ums Bauforum trotzdem bis zum Schluss. Den wohl größten Erfolg feierten sie 1995, als die Verlängerung der Ekkehardstraße endgültig zu den Akten gelegt wurde.

Mittlerweile wandte sich auch die Bevölkerung mehr gegen die Pläne der Stadt. Um einen Anreiz zum Erhalt der verbliebenen alten Häuser im alten Singener Dorf zu schaffen, verlieh der Verein die Auszeichnung „Pro Civitate“ für besonders aufwändige Gebäudesanierungen. Eine Plakette am Haus wies darauf hin. Eines der ersten Gebäude war die Färbe. Sonne, Kreuz, das Helff-Haus folgten und auch in der Scheffelstraße setzte ein Umdenken ein. Das größte Verdienst des Vereins ist aber möglicherweise der Anstoß zu einem wachsenden Demokratieverständnis. 2010 löste sich das Bauforum auf und übergab die Vereinsdokumente an das Stadtarchiv.

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Wie die Stadtaktivisten ihr Engagement heute sehen
Mit Mut und Sachverstand haben sich Singener Bürger für mehr Mitsprache bei der Gestaltung ihres Lebensraumes eingesetzt. Eine bis dahin unbekannte basisdemokratische Debatte hat bis heute Auswirkungen auf das Stadtbild. Drei Zeitzeugen berichten:
- Kurt Burkart leitete das Singener Bauforum bis zum Schluss. Weil dem Verein zuletzt aktive Mitglieder fehlten, löste er sich 2010 nach 40 Jahren auf. „Wir haben uns immer für eine lebenswerte Stadt eingesetzt“, so Burkart. „Das war für einige eine Majestätsbeleidigung. Es waren sehr kämpferische Zeiten. Die Auseinandersetzungen gingen bis ins Persönliche“, erinnert er sich. Dabei verteufelt der 89-Jährige die Planungen des Stadtbaumeisters Hannes Ott nicht in allen Teilen. Sie seien streckenweise genial gewesen. Allerdings habe Ott dem gesamten Grünbereich zu wenig Gewicht beigemessen. Der als Baumdoktor und ehemaliger Inhaber einer Baumschule bekannte Grünfachmann ist hier in seinem Element. „Aus ökologischen und klimatischen Gründen hätte man Grünzüge anlegen müssen“, sagt er und warnt gleichzeitig vor dem aktuellen Verdichtungswahn. Das sei aber nicht alleine der Grund für die Entstehung des Bauforums gewesen. „Es ging um den Erhalt des alten Dorfes“, sagt Burkart. „Das Bauforum hat eine Menge Unsinn verhindert“, ist Burkart überzeugt. „Und es hat dazu beigetragen, dass Naturräume erhalten wurden“, sagt er.
- Ursula Goller war viele Jahre Schriftführerin. In einem Artikel für das Singener Jahrbuch 2004 beschreibt sie die Stimmung gegenüber dem Verein. Der Vereinszweck, wie er in der Satzung definiert war, sei in den 1970er Jahren nicht erwünscht gewesen: „Das Bauforum Singen dient der Förderung von Ideen und Kenntnissen auf allen Fachgebieten, die für die städtebauliche Entwicklung Singens und der Region Hegau-Westlicher Bodensee von Bedeutung sind. /.../ Es setzt sich zum Ziel, das Interesse des Bürgers an seiner Stadt und ihrer städtebaulichen Entwicklung zu wecken und ihn für die Mitarbeit an städtebaulichen Aufgaben aller Art zu gewinnen.“ Die Gruppe wurde in die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition gedrängt. Ursula Goller erinnert sich, wie Kurt Burkart von Stadtbaumeister Hannes Ott öffentlich attackiert wurde, weil dieser sich gegen den Bau der Autobahn bis in die Singener Nordstadt und die Verlängerung der Ekkehardstraße ausgesprochen hatte. Dem Bauforum sei es auch zu verdanken, so Ursula Goller, dass die Michaelskapelle im Alten Friedhof erhalten, die seltenen Bäume stehen blieben und ein Kinderspielplatz gebaut wurde. Ursula Goller würdigt auch den Stimmungswandel in der Stadtplanung in den 1980er Jahren.
- Gudrun Breyer beginnt zu strahlen, wenn man sie nach dem Bauforum fragt. Als Gründungsmitglied erinnert sie sich an manchen Kampf. Lebhaft erzählt die ehemalige SPD-Gemeinderätin von Rielasingen, wie sie im Bauforum den aus ihrer Sicht größten Erfolg feierte: „Das war im Jahr 1985, als die Verlängerung der Ekkehardstraße endgültig abgelehnt wurde.“ Die ehemalige Leiterin der Friedinger Grundschule zeichnet das Schreckgespenst einer auf Stelzen geführten Straße über den Hohgarten. Nachfolgegenerationen, die nur den gepflasterten Rathausplatz mit Stadthalle und Stadtpark dahinter kennen, können über solche Fantasien nur den Kopf schütteln. Gudrun Breyer ist heute noch stolz. Dem Bauforum sei es zu verdanken, dass die Zerstörung alter Bausubstanz gestoppt werden konnte. (gtr)