Die Glocken gehören zur Kirche, wie die Kirche zum Dorf – sollte man meinen. Doch es gibt Menschen, die das ganz anders sehen und gut auf den Klang des Geläuts verzichten können. Vor allem an den nächtlichen Stundenschlägen scheiden sich die Geister. Für die einen ist es eine lieb gewonnene Tradition, für die anderen eine lästige Ruhestörung. In Singen hat genau das nun eine hitzige Diskussion entfacht.
Nach 107 Jahren Zeitläuten der Herz-Jesu-Turmuhr ist das viertelstündliche Schlagen der Glocken am 23. August plötzlich verstummt. In einer Mitteilung der Seelsorgeeinheit wird als Grund die Mechanik des Uhrwerks genannt, wegen der eine nächtliche Ruhepause nicht möglich sei und die Lautstärken-Höchstgrenze überschritten werde. "Eine Anzeige wollen wir derzeit nicht riskieren", heißt es dort weiter.
Die Glocke schweigt Tag und Nacht
Es habe eine Beschwerde aus der Umgebung der Kirche gegeben, erzählt Klaus Hug. Er ist einer der beiden Herz-Jesu-Türmer und kümmert sich mit seinem Kollegen Benedict Sauter um das historische Uhrwerk. "Uns wurde vom Leiter der Seelsorgeeinheit die Anordnung erteilt, das Zeitläuten einzustellen", erklärt Hug und ergänzt: "Wegen der Mechanik der Uhr geht das nur ganz oder gar nicht." Der viertelstündliche Glockenschlag muss nun also auch tagsüber ausbleiben, obwohl er nur nachts als Lärmbelästigung empfunden wird.
Für sie sei das Ganze eine sehr emotionale Angelegenheit, berichten die Türmer. "Wir bedauern es zutiefst, diese lange Tradition plötzlich stoppen zu müssen. Das ist uns sehr schwer gefallen", sagt Klaus Hug und blickt wehmütig in Richtung der großen Vitrine, in der das Räderwerk der alten Uhr langsam und beständig läuft. "Es ist das einzige voll funktionsfähige mechanische Uhrwerk im Hegau", erklärt Benedict Sauter stolz und beschreibt die Schwierigkeiten, die Klaus Hug und er beim Abstellen des Geläuts hatten: "Wenn man die Uhr jetzt komplett abstellen würde, wäre nicht gewährleistet, dass die Mechanik in ein paar Jahren noch funktioniert. Wir wollten also, dass die Uhr weiterläuft und nur das Läuten verstummt – das war eine Herausforderung."
Diese Herausforderung haben Benedict Sauter und Klaus Hug gemeistert, indem sie die Verbindung zwischen dem Uhrwerk und der Glocke gekappt haben. Das eigentliche Problem sei damit jedoch nicht gelöst, sagen die Türmer. Ihrer Ansicht nach musste das Geläut voreilig verstummen. "Ich denke, der Beschwerdeführer hätte erst einmal ein Gutachten vorlegen müssen, das zweifelsfrei belegt, dass das Läuten zu laut ist", meint Hug. Aus juristischer Sicht habe man nicht unter Zugzwang gestanden, ergänzt sein Kollege.
Bürger sammeln Unterschriften
Nicht nur den Türmern fehlt das Stundenläuten der Herz-Jesu-Glocke. Auch Peter Waldschütz kann die Entscheidung der Seelsorgeeinheit nicht nachvollziehen. Obwohl er selbst in Gottmadingen lebt, setzt er sich für die Singener Glocke ein. "Es geht ums Prinzip", sagt er, "denn wer weiß, wo die nächste Beschwerde landet." Deshalb sammelte Waldschütz an den beiden vergangenen Samstagen auf dem Singener Wochenmarkt zusammen mit seiner Frau Unterschriften gegen das Verstummen des Zeitläutens und erntete nach eigener Aussage viel Zuspruch. "Wir hatten schon am ersten Samstag über 100 Unterschriften", berichtet er. Mittlerweile seien es 250. Sein Ziel: Die Pfarrei solle die Meinung der Bürger zu dem Thema mitbekommen.

Und tatsächlich sind die Kirchenglocken auf dem Wochenmarkt ein Thema. "Für mich ist das eine Dreckspatzen-Arbeit", macht Robert Diehr seinem Ärger Luft. Er trage mit seiner Frau den SÜDKURIER aus und das Läuten habe ihnen immer den Takt vorgegeben. "Dadurch wussten wir, ob wir gut in der Zeit sind oder uns beeilen müssen", schildert er. Auch die Anwohnerin Jenny Frankenhauser kann dem Verstummen der Glocke nichts Gutes abgewinnen. Sie sei mit dem Läuten aufgewachsen und finde es sehr befremdlich, dass es nun nicht mehr zu hören ist, erinnert sie sich. Im Internet ging schnell das Gerücht herum, die Bauarbeiten auf dem Herz-Jesu-Platz seien der Grund für die Entscheidung der Seelsorgeeinheit. Nutzer vermuteten, dass den Glocken ein Schweige-Gelübde auferlegt wurde, um die dort entstehenden Eigentumswohnungen besser vermarkten zu können.
Jörg Lichtenberg, Leiter der Singener Seelsorgeeinheit, erklärt auf SÜDKURIER-Anfrage, dass dies nicht der Fall sei. Die Beschwerde komme stattdessen von zwei Anwohnern aus der Hegaustraße. "Ein Gutachten wurde nicht erstellt, jedoch lagen Messungen vor, deren Werte etwas über den erlaubten im Nachtbetrieb für weltliches Geläute liegt", so Lichtenberg. Auch ihm fehle das Nachtläuten, an das er sich gewöhnt habe, sagt er und ergänzt: "Andererseits ist die Rechtslage eindeutig und will so auch erfüllt sein, damit keine Nachtruhe gestört wird."

Und wie geht es jetzt weiter?
Wie Jörg Lichtenberg mitteilt, hat der Stiftungsrat den Glockeninspektor der Erzdiözese Freiburg mit einem Lautstärke-Gutachten beauftragt und der zuständigen Firma einen Auftrag erteilt. Es wird untersucht, wie die Lautstärke gemindert oder nachts ganz vermieden werden kann. Die Maßnahmen müssten jedoch "in einem angebrachten Kostenrahmen" liegen. Danach, sagt Lichtenberg, werde über die Finanzierung und das weitere Vorgehen entschieden – "zum Beispiel, ob die Bevölkerung bereit ist, durch Spenden eine solche Lärmdämmung mitzufinanzieren." Vorerst bleibt das Zeitläuten jedoch ausgesetzt und die Glocken dürfen nur zu den Gottesdiensten erklingen.
So viel Lärm ist erlaubt
Das weltliche Kirchengeläut, zu dem auch das Zeitläuten gehört, unterliegt den Bestimmungen des Bundes-Immissionsschutz-Gesetzes und ist nicht durch das Recht auf ungestörte Ausübung der Religion geschützt. In Kern-, Dorf- und Mischgebieten ist die maximal erlaubte Lautstärke nachts 45 Dezibel. Allerdings sind kurzzeitige Überschreitungen dieser Richtwerte – wie sie im Falle eines Glockengeläuts erfolgen – gestattet und dürfen bis zu 20 Dezibel betragen. (svg)