Auf der Dachterrasse pflegt eine junge Frau den Kräutergarten. Eine Etage darunter arbeitet ihr Mann im Home-Office. Wenn er vom Laptop aufschaut, kann er durch das Wohnzimmerfenster dabei zusehen, wie die Kinder im Schwimmbecken auf dem Hof planschen. Auf der Boccia-Bahn daneben prüfen zwei ältere Herren, welche Kugel ihrem Ziel am nächsten gekommen ist.

Jeder kennt jeden. Dicht nebeneinander wohnen und arbeiten hier Deutsche und Ausländer. Reich und Arm. Jung und Alt. Das alles klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Vorerst ist es das auch noch. Aber: Der Singener Architekt Achim Achatz arbeitet daran, dieses Luftschloss in einen realen Ort umzuwandeln. Mit seinen Kollegen Daniel Achatz, Michael Kolb und 60 Mitstreitern plant er die Errichtung eines neuen Quartiers im Herzen von Singen.

Ein wirkliches Zusammenleben

Wir treffen den Visionär hinter dem Projekt „Lebenswert“ in seinem geschmackvoll eingerichteten Haus in der Aachstraße. Hier lebt und arbeitet Achatz. Aber vielleicht nicht mehr lange. "Seit die Kinder ausgezogen sind, ist das Haus zu groß für meine Frau und mich", findet der großgewachsene Mann mit den blauen Augen. "Was sollen wir denn mit dem ganzen Platz?" Tatsächlich könne er es sich sehr gut vorstellen, in die neue Anlage zu ziehen, mit deren Planung er bereits seit 2015 beschäftigt ist. Das Leitbild dahinter ist auf 20 DIN A4-Seiten zusammengefasst, die der Architekt jetzt aus einer Klarsichtfolie befreit.

Es fällt direkt auf, dass auf fast jeder Seite das Wort "gemeinschaftlich" auftaucht. Sei es der Gemeinschaftsgarten, in dem sich die Generationen begegnen sollen, die Quartierswerkstatt und -bibliothek oder der gemeinschaftlich nutzbare Wohnhof: Wer die Wohn- und Gewerbeflächen der Anlage nutzen möchte, darf sich nicht abschotten. So weit die Idee. Achatz ist sich bewusst, dass dieses Zusammenleben im Gegensatz dazu steht, wie viele Singener – er selbst eingeschlossen – im Moment noch leben. "Jeder hat seinen Gartenzaun – jeder grenzt sich ab", formuliert er es plakativ. Das müsse sich in Zukunft ändern. "Der Mensch ist schließlich ein soziales Wesen!"

Wie die neue Wohnanlage in Singen genau aussehen wird, steht noch in den Sternen. Ein Bauprojekt, das sich die Verantwortlichen von ...
Wie die neue Wohnanlage in Singen genau aussehen wird, steht noch in den Sternen. Ein Bauprojekt, das sich die Verantwortlichen von "Lebenswert" zum Vorbild genommen haben, ist das hier abgebildete "wagnisArt" in München. Die aus fünf Häusern bestehende Anlage ist in diesem Jahr vom Deutschen Architekturmuseum (DAM) mit einem Preis ausgezeichnet worden. | Bild: DPA

Dem Architekten geht es dabei nicht nur um die Problematik der Einsamkeit, die aus seiner Sicht längst nicht nur ältere Menschen betrifft. Für ihn ist besonders das Thema Wohnraummangel ein akutes Problem. Die Art und Weise, wie damit umgegangen wird, erinnert Achim Achatz an die Reaktionen auf den Klimawandel: "Auch, wenn einige Verantwortungsträger die zunehmenden Probleme ignorieren wollen, werden die Konsequenzen immer verheerender."

Kein Problem vom Mars

Oberbürgermeister Bernd Häusler sieht das ähnlich: "Das ist kein Problem, das plötzlich vom Mars gefallen ist, sondern ein schleichender Prozess", beschreibt der OB. "Der Zuzug und der Druck nimmt gerade in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich zu." Allein zwischen 2013 und 2018 habe Singen 3000 neue Einwohner dazugewonnen. Einen Grund dafür sieht Häusler darin, dass in den vergangenen Jahren Mieten und Wohnpreise in Konstanz und Radolfzell immer weiter gestiegen sind. Als Folge des "Überschwappens" werden in der Hegaumetropole die Grundstücksflächen knapp.

Umso sinnvoller erscheint es ihm, platz- und ressourcensparende Wohnformen zu etablieren. "Deshalb haben wir von Anfang an die Entwicklung von 'Lebenswert' unterstützt." Schon vor zwei Jahren habe die Stadt externe Experten eingeladen, um das Projekt entwickeln zu können. "Wir sind mit an Bord, ganz klar", fasst Häusler zusammen. Ein beim Land Baden-Württemberg eingereichter Förderantrag sei in der Zwischenzeit bewilligt worden. Geht es nach Bürgermeister und Architekt, dann wird "Lebenswert" auch Platz für diejenigen schaffen, die auf dem freien Wohnungsmarkt benachteiligt sind. Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund und Behinderte sollen das Gesicht des neuen Quartiers mitprägen.

Die Standortfrage

Bis es soweit ist, gilt es noch eine entscheidende Frage zu klären: Wo soll das neue Quartier hin? "Das Projekt steht und fällt mit dem Grundstück", ist sich Bernd Häusler bewusst. Und da der Gemeinderat über die Vergabe von Grundstücken entscheidet, wird Achim Achatz versuchen, das Gremium im kommenden Monat noch einmal von seiner Vision zu begeistern. Der Architekt ist überzeugt davon, dass das neue Quartier ein Plus an Lebenswert bringen wird. Und davon würde nicht nur er profitieren, sondern die ganze Stadt.