Von friedlicher Weihnacht war die Welt in jenem Winter weit entfernt: Der Zweite Weltkrieg tobte und die Auswirkungen waren immer mehr im Alltag zu spüren. „Das Wirken der Propagandamaschinerie hat damals ihre Wirkung verloren“, erinnert sich Singens Ehrenbürger Wilhelm Josef Waibel angesichts immer häufiger in der Luft brummender Bomber und des markerschütternden Heulens der Sirenen. Dass er als Junge begeistert in der Hitler-Jugend gewesen sei, mag Waibel nicht verschweigen. Kinder, die nicht in der Hitler-Jugend waren, seien Außenseiter gewesen. Doch die Ereignisse des 25. Dezember 1944 hätten bei vielen in Singen zum Umdenken geführt. „Schon als Zehnjähriger habe ich so lernen müssen: Krieg ist keine Lösung“, sagt Waibel heute.

„Wir haben im Keller gehockt, gewartet und gebetet“, erinnert sich Zeitzeuge Wilhelm J. Waibel.
„Wir haben im Keller gehockt, gewartet und gebetet“, erinnert sich Zeitzeuge Wilhelm J. Waibel. | Bild: Marcus Welsch

38 Jagdbomber nehmen Kurs auf den Hegau

75 Jahre ist es her, dass der deutsche Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt an jenem 25. Dezember die deutsche Ardennenoffensive und damit das letzte Aufbäumen Hitler-Deutschlands vor dem Untergang für gescheitert erklärt hat. Doch während der Führer forderte, das aussichtslose Unternehmen fortzusetzen, setzten die Alliierten ihre Angriffe fort – zu Lande und aus der Luft. 38 Jagdbomber haben an jenem Dezembertag Kurs auf den Hegau genommen, wie Wilhelm Waibel nachgeforscht hat. Ihr Ziel waren nicht Industrieanlagen, sondern die Bahngleise der Region. Dieses Ziel wurde nicht nur in Singen verfolgt, auch im benachbarten, schweizerischen Thayngen fielen Bomben an jenem Tag, weil neun Piloten ihr Ziel verwechselten. Ein Stellwerkwärter verlor dort sein Leben.

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Memoiren schildern den Bombenangriff

In Singen endete der Bombenangriff verheerender und hat sich bei Zeitzeugen tief ins Gedächtnis gegraben. Auch der vor wenigen Jahren verstorbene Fritz Besnecker hat dem Tag in seiner Biografie viel Platz eingeräumt. Geboren 1929 war er genau 15 Jahre alt und in der Lehre zur Kriegsweihnacht 44: „In den meisten Familien sind die Geschenke am Vorabend bescheiden ausgefallen. Doch dann bekamen wir eine andere Bescherung„, schreibt er in seinen Memoiren. Wäre er an diesem Tag einer Einladung seiner Meisterfamilie in der Schlosserei Guter in der Hauptstraße gefolgt, wäre er mit ihnen zusammen unter den Trümmern begraben worden.

Ein Bild der Verwüstung: Entlang des Aachkanals waren die Auswirkungen der Bombeneinschläge am Heftigsten. Im Hintergrund ist der Turm ...
Ein Bild der Verwüstung: Entlang des Aachkanals waren die Auswirkungen der Bombeneinschläge am Heftigsten. Im Hintergrund ist der Turm der Josefskirche zu erkennen. Bilder: Stadtarchiv | Bild: Stadtarchiv

„Um 14.20 Uhr sind die Bomben gefallen“, weiß Waibel bis heute. Nicht nur die Eisenbahnbrücke über die Aach wurde weitgehend zerstört, sondern auch etliche Gebäude im Umfeld. 37 Tote wurden beklagt, darunter mehrere Kinder, sowie 58 Schwerverletzte. Doch die nationalsozialistische Presse hatte keine Zeile für die Ereignisse übrig, galt es doch, den Einsatzwillen der Bevölkerung nicht zu schwächen.

Anblick der Bombardierung in der Hauptstraße vom damaligen „Deutschen Hof“ aus Richtung Süden. Im Hintergrund ist das ...
Anblick der Bombardierung in der Hauptstraße vom damaligen „Deutschen Hof“ aus Richtung Süden. Im Hintergrund ist das einstige Gasthaus „Schützen“ zu sehen. | Bild: Stadtarchiv

Zehn Jahre alt war Waibel damals und wohnte mit seiner Familie ganz in der Nähe der Ereignisse in einem Maggi-Haus. Die bangen Stunden im Luftschutzkeller haben sich in seine Erinnerung gebrannt. Gemeinsam mit Gleichaltrigen hat er die Tage im Keller mit Kreidestrichen an den Eichenbalken markiert, die dem Keller Stabilität gegen die Druckwellen verleihen sollten. Rund 100 1000-Kilo-Bomben laden die B-26-Bomber über Singen ab.

Mühsam war der Einsatz um Verschüttete zu retten – viele konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.
Mühsam war der Einsatz um Verschüttete zu retten – viele konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden. | Bild: Stadtarchiv

Tod, Zerstörung und Angst in der Hauptstraße

Im Zentrum des Bombardements haben die Luftschutzkeller der Belastung nicht standgehalten. Im Bericht der 320. US-Bombergruppe zum 436. Einsatz dieses Jahres wird Bilanz gezogen: “Ein ausgezeichnetes Muster von Bomben bedeckt das Ziel“. Im Umfeld der Eisenbahnbrücke und im südlichen Teil der Hauptstraße herrschen hingegen Tod, Zerstörung und Angst. „Gleich nach Entwarnung rannte ich mit meinem Vater los, um zu sehen, ob die Tante noch lebte. Wir fanden eine tote Polin, wohl eine Zwangsarbeiterin, deren abgerissener Arm an der Hauswand meiner Tante hing“, erzählt Waibel. Ihr Grab konnt er später bei den sogenannten Russengräbern auf dem Waldfriedhof wiederfinden.

1991 wurde bei den Bauarbeiten am Parkhaus an der Julius-Bührer-Straße ein Blindgänger ausgegraben.
1991 wurde bei den Bauarbeiten am Parkhaus an der Julius-Bührer-Straße ein Blindgänger ausgegraben. | Bild: Stadtarchiv

„Die Druckwellen haben den Kindern die Lungen verrissen“

Der Singener Schriftsteller Erich Georg Gagesch hat die Ereignisse jener Weihnacht in der Geschichte „Vom Himmel hoch“ nacherzählt. Darin wurden auch die Erinnerungen des damals 14-jährigen Rolf Jäkle verarbeitet. Seine zehnjährige Schwester Ingrid kam bei dem Angriff im Keller der elterlichen Bäckerei ums Leben. Er selbst war mit Freunden im Wald und wunderte sich nach der Rückkehr über das viele Mehl, das überall herum lag. Das Lager der Bäckerei ist beim Angriff explodiert. „Das Mehl und der stabile Ofen haben die Explosion von zwei Zehn-Zentner-Bomben aufgefangen, die direkt auf unser Haus gefallen sind. Das hat viele Menschen gerettet. 24 waren unten im Keller, fünf Tote hat‘s gegeben, die Druckwellen haben den Kindern die Lungen verrissen.“

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Wie entsetzlich das Geschehen war, geht auch aus den Aufzeichnungen Heinrich Rebsamens hervor, dessen Enkel Rolf Rebsamen die Erinnerungen veröffentlicht hat: „Unzählige Male waren wir durch Alarm gezwungen den Luftschutzkeller aufzusuchen, aber dann galt‘s ernst. Es war furchtbar“, heißt es in den Lebenserinnerungen des Schweizers, der damals in Singen wohnte. Das Haus fiel über ihm zusammen und begrub neben Rebsamen und seiner Frau alle, die in diesem Augenblick im Hause waren. Über vier Stunden waren sie verschüttet, ehe es ihm nach 18 Uhr gelang, wieder ans Tageslicht zu kommen. Er landete im Krankenhaus. Dass seine Frau unter den Todesopfern war, erfuhr er erst fünf Tage später. Sein Sohn Fritz nahm ihn später mit nach Laufenburg. „Man muss sich in meine Situation versetzen: Nebst meiner Lebensgefährtin, die mir 51 Jahre treu zur Seite stand, noch Hab und Gut zu verlieren, krank und verlassen im Spital liegend, nicht wissend, wohin in Zukunft mein Haupt zu legen; das sind wahrhaftig Dinge genug, missvergnügt, wenn nicht noch viel mehr, zu sein.“

Bombensplitter wird zum Brieföffner

„Fliegeralarme und Sirenen haben eine Hauptrolle gespielt in meiner Kindheit“, sagt Waibel heute. Er möchte auf keinen Fall, dass Dinge aus dieser Zeit verschwiegen werden. Einen Bombensplitter, der damals im Buffet steckte, bewahrt er bis heute auf. Sein Vater hat einen Brieföffner daraus gemacht.