Herr Harder, wie haben sich die Zahlen in Hinblick auf die Art und Häufigkeit der Krebserkrankungen in den letzten zehn Jahren entwickelt?
Krebserkrankungen nehmen in Deutschland von Jahr zu Jahr zu. Die größte Steigerung verbuchen wir bei Bauchspeicheldrüsenkrebs und Lungenkrebs bei Frauen. Die Hauptursache ist eine steigende Lebenserwartung, Fettleibigkeit und das Rauchen.
Was hat sich in der Behandlung verändert, welche nennenswerten therapeutischen Möglichkeiten gibt es inzwischen?
Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahren enorm erweitert. Auch bei uns in der Region. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wurde optimiert und viele neue Therapieverfahren haben Einzug in den Alltag gefunden. Ein Beispiel ist die Immuntherapie oder Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, die die Wirksamkeit der Behandlung verbessern und im Vergleich zur herkömmlichen Chemotherapie die Nebenwirkungen reduzieren.
Welche Rolle spielt das onkologische Zentrum Hegau-Bodensee für die regionale Patientenversorgung?
Mein Team und ich arbeiten daran, die Versorgung von Krebspatienten sowohl lokal als auch regional zu verbessern. Das onkologische Zentrum Hegau-Bodensee ist ein abgestimmtes Netzwerk aus ambulant und stationär arbeitenden Spezialisten, das Patienten mit Krebs in allen Bereichen versorgt. Gleichzeitig setze ich mich mit der Arbeitsgemeinschaft der Transdisziplinären onkologischen Versorgung (ATO) dafür ein, Netzwerke und Strategien zu entwickeln, die überregional Wirkung zeigen. Als Mitglied im Landesbeirat Onkologie des Sozialministeriums Baden-Württemberg versuche ich, den Anliegen der Patienten in der Politik Gehör zu verschaffen.
Im November letzten Jahres fand in Singen eine ATO-Tagung statt. Was ist die Aufgabe der ATO?
Die ATO ist ein interdisziplinäres Netzwerk aus Fachleuten der Onkologie, das sich seit seiner Gründung im Jahr 1983 für eine bessere Krebsversorgung einsetzt. Wir bringen medizinische und nichtmedizinische Akteure, wie Kliniken, niedergelassene Ärzte und Selbsthilfegruppen zusammen, um innovative Versorgungskonzepte zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um die Therapie selbst, sondern ebenso um Themen wie Prävention, Nachsorge und psychosoziale Unterstützung.
Wie hat sich die ATO seit ihrer Gründung entwickelt?
Die ATO hat sich über die Jahre stark weiterentwickelt und ihre Bedeutung in der onkologischen Versorgung ausgebaut. Am Anfang stand der interdisziplinäre Austausch im Fokus. Heute setzt die ATO gezielt Impulse für die Weiterentwicklung der Versorgungspraxis, wie beispielsweise die Brückenpflege oder die Krebsberatungsstellen. Die ATO-Tagung ist inzwischen eine feste Größe in Baden-Württemberg und bringt Experten, Patientenvertreter und politische Entscheidungsträger zusammen, um neue Wege in der Krebsversorgung zu erarbeiten.
Welche Kernfragen wurden in der letzten ATO-Tagung, die in Singen stattfand, erörtert und welche neuen Erkenntnisse wurden gewonnen?
Die Tagung stand unter dem Motto „Tatort Onkologie – Impulse für eine bessere Versorgung“. Thematisch wurden zentrale Herausforderungen wie der Fachkräftemangel, die Digitalisierung in der Onkologie und die Verbesserung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit behandelt. Ein wichtiger Schwerpunkt war auch die Finanzierung neuer Versorgungsmodelle.
Passend zum Titel der Veranstaltung „Tatort Onkologie“ konnten Sie unter anderem Schauspielerin Anna Schudt mit ins Boot holen.
Die künstlerischen Beiträge von Anna Schudt, Till Hastreiter und Magdalene Schäfer schufen eine motivierende Atmosphäre. Sie haben dazu beigetragen, bei allen Teilnehmern das Bewusstsein für die Herausforderungen der Krebsversorgung zu schärfen.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen in der Versorgung von Krebspatienten in unserer Region?
Eine zentrale Herausforderung ist die Balance zwischen einer wohnortnahen Versorgung und der Notwendigkeit, spezialisierte Angebote an wenigen Zentren zu konzentrieren. Hinzu kommt der demografische Wandel: Die Zahl älterer Menschen, die oft mehrere Erkrankungen haben, steigt stetig. Gleichzeitig erschweren Personalmangel und finanzielle Unsicherheiten die Planungssicherheit, insbesondere vor dem Hintergrund der geplanten Reformen im Gesundheitswesen.
Inwiefern?
Die Reformen zielen darauf ab, die Krankenhauslandschaft zu straffen und durch Vorhaltepauschalen stabiler zu finanzieren. Das ist grundsätzlich positiv. Allerdings bleibt unklar, wie sich diese Änderungen auf die spezifischen Bedürfnisse von Krebspatienten auswirken. Besonders für nicht-universitäre Kliniken ist die Umsetzung der Reformen noch mit vielen Fragezeichen verbunden, was die langfristige Planung erschwert und Unsicherheit beim Personal und Patienten hervorruft. Es braucht eine kluge Umsetzung durch die Landesregierung, die die spezifischen Bedürfnisse der Krebsversorgung berücksichtigt.
Ist der GLKN an Projekten beteiligt, die die aktuelle Versorgungssituation verbessern?
Letztes Jahr konnte der GLKN in Zusammenarbeit mit dem Hospiz- und Palliativzentrum Horizont die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) auf den gesamten Landkreis Konstanz ausdehnen. Sie ermöglicht schwerstkranken Krebspatienten eine umfassende Betreuung in ihrer vertrauten Umgebung. Aktuell wollen wir Patientenlotsen einsetzen, um den Übergang zwischen stationärer und ambulanter Versorgung zu erleichtern und Betroffenen zu helfen, sich im Wirrwarr der Therapie- und Versorgungsangebote zurechtzufinden. Leider wird dieses Angebot von den Krankenkassen derzeit nicht finanziert. Mit der ATO arbeiten wir daran, das zu ändern. Ein langfristiges, innovatives Projekt gemeinsam mit dem Verein Bio-Lago ist Chemo-Pro, bei dem eine digitale Plattform die Behandlungs-Prozesse der Chemotherapie optimieren soll. Es wird durch den EU-Interreg Fonds gefördert. Chemo-Pro sorgt für eine lückenlose Informationsweitergabe, bündelt alle Patientendaten auf einen Blick und kann so die Sicherheit und Effizienz erheblich verbessern.
Wie sehen Sie die Zukunft der Krebsversorgung in unserer Region?
Ich bin optimistisch, dass wir durch eine Kombination aus Digitalisierung, Vernetzung und stärkerer Patientenzentrierung große Fortschritte machen werden. Mein Wunsch ist es, dass alle Patienten, unabhängig von ihrem Wohnort oder sozialem Status, Zugang zu einer bestmöglichen Behandlung erhalten.