Eine 95-Jährige Frau steht an der Aufzugtüre des Pflegeheims. „Moment, es gibt gleich Mittagessen“, ruft die Altenpflegerin. „Aber nein. Ich muss auf den Zug“, antwortet die Dame mit den weißen Haaren. Und sie präzisiert: „Auf den Zug zu meiner Mutter. Nach Singen.“ Solche Konflikte spielen sich häufig zwischen Menschen mit Demenz und ihren Betreuern ab.

Michael Brzesowsky kann viele solcher Geschichten erzählen. Er ist international anerkannter Trainer für Validation nach Naomi Feil, im Sozialdienst der neurologischen Schmieder-Kliniken in Allensbach tätig und unterrichtet darüber hinaus an verschiedenen Pflege- und Ausbildungseinrichtungen in der Region. Wegen Corona bietet er jetzt auch vermehrt Online-Kurse an, um Pflegekräften zu helfen.

Fehler im Umgang mit Dementen

Der Sozialpädagoge kennt den beschriebenen Konflikt aus seiner täglichen Praxis. Schnell könne man in solchen Situationen falsch reagieren. „Man könnte konfrontieren und sagen: Sie sind schon 95 Jahre alt. Ihre Mutter ist tot!“ Das ist zwar die Wahrheit – doch es wäre in dieser Situation grundfalsch, betont Michael Brzesowsky. Der Betroffene wäre damit überfordert.

Ein anderer Fehler wäre eine Lüge. Etwa zu sagen: „Heute fährt kein Zug.“ Damit wäre die Frage vielleicht erst einmal beantwortet – doch gemäß der Gründerin der Validation, der Gerontologin Naomi Feil, merke ein verwirrter alter Mensch trotz seiner Einschränkungen, wenn er angelogen werde.

„Es gibt kein therapeutisches Lügen in der Validation“, bekräftigt Michael Brzesowsky. Es sei sehr anspruchsvoll, Menschen mit Demenz zu bestärken, anstatt sie zu beschämen. Man könne nicht einfach eine Situation nehmen und dazu die passende Lösung aus einem Karteikasten ziehen. Bei der Validation gehe es zunächst darum, die eigene Grundhaltung und das Gespür für das Gegenüber zu schulen.

Kurs für Pfleger und Betreuer

Christine Baumgärtner ist im Sozialdienst des Pflegeheims Haus am Hohentwiel in Singen tätig. Sie erläutert: „Unser Heimleiter Urs Bruhn hat einen sechstägigen Validationskurs für unsere Mitarbeiter aus Pflege und Betreuung organisiert. Die Tage waren auf ein halbes Jahr verteilt.“ Dadurch habe immer wieder die Möglichkeit bestanden, das Gelernte in der Praxis umzusetzen – und beim nächsten Kurstag wieder Fragestellungen aus dem Betreuungs-Alltag mitzubringen.

In Validationskursen wird die eigene Erfahrung in Gruppen reflektiert und in Rollenspielen vertieft, so Michael Brzesowsky: „Jeder Mensch kann anders validiert werden. Es geht nicht nach Schema F.“ Es gehe zunächst darum, sich ganz auf den Anderen einzulassen: „Ich muss lernen, mich für fünf Minuten ganz auf mein Gegenüber einzustellen. Schaffe ich es, diese Person für fünf Minuten der wichtigste Mensch in meinem Leben sein zu lassen?“

Bei der Validation werde deshalb Empathie und Zentrierung geschult. Erst dann solle man die Emotion des anderen erspüren. Und schließlich gebe es bei dieser Herangehensweise noch einen „Werkzeugkoffer“ mit 15 Techniken – die man dann individuell anwenden könne.

„In den Schuhen des anderen gehen“

Das Anliegen, mit dem Zug zur Mutter fahren zu wollen, könne ganz verschieden aufgefasst werden – je nachdem, ob der Satz beispielsweise wütend oder sehnsüchtig vorgebracht wird. Validation bedeute, so zitiert Michael Brzesowsky die Begründerin der Methode, Naomi Feil, „in den Schuhen des anderen zu gehen.“

Was könnte dies nun im Falle der 95-jährigen Frau Müller heißen, die zum Bahnhof will und ihre Mutter sucht? Validations-Trainer Michael Brzesowsky erläutert: „Man kann das Anliegen wiederholen, ohne nach dem Warum zu fragen.“ Denn das Warum könne das Gegenüber eventuell noch mehr verwirren.

Serie „Leben mit Demenz“

Die Absicht zu wiederholen, ginge zum Beispiel so: „Frau Müller, Sie wollen heute noch zu Ihrer Mutter nach Singen?“ Dann sei es wichtig, den Gefühlszustand des Gegenübers zu erkennen. Das Spektrum der Gefühle könne gehen von „Sie sind ja sehr in Eile“ über „Sie sind beunruhigt“ bis hin zu „Sie vermissen Ihre Mutter.“

Dadurch fühle sich das Gegenüber ernst genommen und man könne versuchen, ein Gespräch aufzubauen. Vielleicht ließe sich die 95-Jährige dann auf eine Reise in die Vergangenheit ein: „Erzählen Sie mir doch von Ihrer Mutter“ Denn wenn man jemand vermisse und über die Person spreche, dann komme diese wieder näher.