Herr Shikano, in Singen lag die Wahlbeteiligung sowohl bei der letzten Oberbürgermeister- wie auch bei Landtagswahlen bei unter 50 Prozent. Fühlen sich viele Wähler nicht mehr durch die Politik angesprochen?
Ich habe mir die Zahlen angeschaut: Bei diesen beiden Wahlen lag die Wahlbeteiligung tatsächlich unter 50 Prozent. Bei der Bundestagswahl lag die Beteiligung in Singen allerdings bei knapp 70 Prozent. Das zeigt, dass ein gewisser Anteil von Wählern die Bürgermeister- oder Landtagswahl für deutlich weniger wichtig hält.
Sie glauben also nicht, dass sich immer weniger Menschen von der Politik angesprochen fühlen?
Natürlich gibt es auch solche Personen, aber nicht alle. Es gibt Menschen, die gar nicht an Wahlen teilnehmen, weil sie nicht Teil von ihrem Leben sind. Wahlen spielen in ihrem Leben keine Rolle. Aber wenn man sich gerade die Bundestagswahlen anschaut, ist doch wieder ein Aufwärtstrend zu beobachten. Generell würde ich also nicht sagen, dass die Politikverdrossenheit zugenommen hat.
Bringt es etwas, wenn man mehr Menschen zur Wahl zulässt, zum Beispiel schon ab 16 Jahren?
Mehr Menschen einzubeziehen ist grundsätzlich keine schlechte Idee. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen haben unterschiedliche Interessen und diese Interessen könnten dadurch Gehör bekommen. Wenn man damit die Wahlbeteiligung erhöhen möchte, könnte man aber enttäuscht werden. Bei der letzten Bürgermeisterwahl in Singen durften Jugendliche ab 16 Jahren wählen. Da haben die jüngeren Leute diese Chance ja leider nur in geringem Maß mit rund 37 Prozent wahrgenommen. Grundsätzlich sehe ich es aber schon positiv, mehr Menschen unter die Wählerschaft zu bringen.
Was ist von einer Wahlpflicht, wie es sie zum Beispiel in Belgien gibt, zu halten?
Wenn man die Wahlpflicht einführt, steigt die Wahlbeteiligung. Die Qualität der Beteiligung ist dann aber eine andere. Diejenigen, die sonst nicht zur Wahl gegangen wären, sind gezwungen zu gehen, informieren sich aber trotzdem nicht darüber, wofür die Kandidaten stehen. Dann erfolgt die Wahlentscheidung eher zufällig oder der Kandidat, der zufällig auf dem Wahlzettel oben steht, bekommt mehr Stimmen. Ich halte nicht viel von der Idee. In Belgien gibt es ja die Wahlpflicht, aber es wird nicht geahndet, wenn jemand nicht wählt. Man müsste dann ja auch offenlegen, wer nicht gewählt hat und das ist meines Erachtens eine Verletzung des Wahlgeheimnisses und der Wahlfreiheit, da auch die Nichtwahl eine Entscheidung ist.
Sie denken nicht, dass sich die Menschen dann mehr mit der Politik auseinandersetzen müssten?
Das wäre natürlich gut. Aber dann hätten sie sich auch schon vorher mit Politik befasst und wären wählen gegangen. Einen positiven Effekt kann es geben, aber ich wäre nicht zu optimistisch vor allem unter der Bedingung der Wahlpflicht.
Wie kann man es schaffen, mehr Bevölkerungsgruppen in das politische Geschehen einzubinden?
Mehr oder weniger sind wir alle in die Politik eingebunden. Wir müssen zum Beispiel Steuern zahlen und uns an die Corona-Regeln halten. Aber nicht viele sind von sich aus in der Politik aktiv. Wobei das für viele auch schwierig ist, denn Politik ist ja nur eines von vielen Dingen, die uns im Alltag beschäftigen. Wir sind im Beruf eingebunden und wollen Zeit mit der Familie verbringen. Politisch aktiv zu sein, ist eine Herausforderung.
Aber ist es nicht auch so, dass Menschen mit weniger Bildung, geringerem Einkommen oder Migrationshintergrund auch weniger in politischen Gremien vertreten sind?
Es ist sicherlich wichtig, mehr Möglichkeiten der politischen Beteiligung zu schaffen. In Ludwigshafen am Rhein, wo ich gewohnt habe, gab es zum Beispiel einen Beirat für Migration und Integration, der von den Migranten gewählt wird und dem Gemeinderat beratend zur Seite steht. Gleichzeitig muss man aber hier auch an die Bedürfnishierarchie denken: Auf der untersten Stufe steht das Essen oder Überleben. Und wenn man das geschafft hat, kommt die nächste Stufe. Politik ist in der Hierarchie recht weit oben. Deshalb haben Menschen mit höherem Einkommen und höherer Bildung mehr Ressourcen und mehr Zeit, sich politisch zu engagieren. So können auch solche Instrumente, wie der Migrationsbeirat, die ungleiche Repräsentation innerhalb der Bevölkerungsgruppe vergrößern.

Was empfehlen Sie Kandidaten, um auch die Nichtwähler mit ihrem Wahlkampf anzusprechen?
Es gibt Menschen, die immer wählen gehen, solche die nicht wählen gehen und Gelegenheitswähler. Diese letzte Gruppe müsste man ansprechen. Das hieße, diejenigen, die an der Bundestagswahl teilnehmen aber nicht an der Bürgermeisterwahl, zu mobilisieren. Dabei sollte man versuchen zu vermitteln, wie wichtig die OB-Wahl ist. Und zwar nicht bezogen auf einzelne Themen, wie zum Beispiel die Parkgebühren. Bei der Bundestagswahl gibt es ja einen Kampf zwischen den Parteien, die mit einem Wahlpaket antreten. Genauso sollte man auch versuchen, ein größeres Bild zu zeichnen. Alle Maßnahmen sollten stimmig sein und sich an einem politischen Ideal wie zum Beispiel Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit orientieren. Auch wenn man vielleicht auf Bundesebene mehr bewegen kann, kann man doch aufzeigen, was auf Ebene der Stadt möglich ist. Das könnte die Menschen ansprechen und bewegen.
Welche neuen, digitalen Wege können Kandidaten gerade in Zeiten von Corona suchen, um die Wähler zu erreichen?
Leider ist es ja derzeit kaum möglich, die Menschen auf direktem Weg anzusprechen. Auf digitalem Weg die Menschen zu erreichen, ist auch nicht einfach, weil es so viele verschiedene Plattformen wie Twitter oder Facebook gibt. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen verwenden unterschiedliche Medien. Alles abzudecken, ist keine leichte Übung. Ich würde nicht unbedingt empfehlen, weniger etablierte Kanäle zu nutzen, um eine kleine Zielgruppe zu erreichen. Das kann auch das Gegenteil bewirken. Es gab eine Studie zu einer Plattform, wo man regionale Probleme diskutieren konnte. Es hat sich gezeigt, dass Menschen, die nicht im Internet aktiv sind, eher entmutigt wurden, sich zu engagieren. Man sollte immer beachten, dass nicht alle Menschen gleichermaßen im Internet aktiv sind. Im Kontext der lokalen Politik finde ich die regionale Zeitung weiterhin wichtig, denn viele Menschen lesen sie, vor allem um sich über die Geschehnisse in ihrer Region zu informieren.
Zur Person und Wahl
SusumuShikano (50) ist seit 2009 Professor für Methoden der empirischen Politik- und Verwaltungsforschung an der Universität Konstanz. Vorher war er Vertretungsprofessor an der Universität Potsdam und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mannheim. Er kommt aus Japan und studierte in Tokio Politikwissenschaften. Shikano befasst sich vor allem mit Themen der Politischen Soziologie, der Vergleichenden Regierungslehre und der Methodenforschung. Speziell leitete er Projekte und veröffentlichte Publikationen zur Wahl- und Wählerforschung, zum Parteienwettbewerb und zur Koalitionstheorie.
Die Singener OB-Wahl findet am Sonntag, 11. Juli, statt. Bislang kandidiert nur Amtsinhaber Bernd Häusler, bis Montag, 14. Juni, um 18 Uhr können sich weitere Bewerber melden. Sollte ein zweiter Wahlgang nötig werden, findet dieser am Sonntag, 25. Juli, statt. (eph)