Es hat fast schon etwas von Geschichtsunterricht, wenn Gustav Dorell anlässlich seines 90. Geburtstags aus seinem Leben erzählt. Nachdem er nach dem Zweiten Weltkrieg dreieinhalb Jahre lang in Dänemark interniert gewesen war, kam er am 18. Juni 1948 als Vollwaise mit 25 weiteren Kindern und Jugendlichen nach Wahlwies. Und obwohl er sich hier mit fünf anderen Jungen ein Zimmer teilen musste, die Unterbringung eher armselig war und das Essen sie nicht satt machte, habe er sofort gespürt: Von diesem Ort komme er nicht mehr los. Und er behielt Recht: Abgesehen von einigen Unterbrechungen verbrachte Gustav Dorell sein Leben im Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf. Ab 1968 hat er für mehr als 20 Jahre in Gärtnerei, Landwirtschaft und Obstbau des Kinderdorfes gearbeitet. Und noch heute, schon lange im Ruhestand, lebt Dorell dort.
Er erzählt: „Wir gingen anfangs bei Bauern für Äpfel und Kartoffeln betteln.“ Als das Kinderdorf 1949 vor dem finanziellen Ruin stand, sei er dennoch dankbar für das Dach überm Kopf gewesen. Durch Firmenspenden ging es weiter. Dorell sollte zunächst Koch werden, doch er bekam Magengeschwüre. Er sollte Gärtner werden, doch das Bücken ging wegen seines Rückens nicht. Schließlich wurde er Schumacher. Kaum ausgelernt, zog es ihn fort. Eigentlich wollte er nach Kanada, das war sein großer Traum, verrät er.
Doch weil er als gebürtiger Litauer nur drei Jahre lang eine deutsche Schule besucht hatte, habe er zunächst den Vorschlag einer Erzieherin aufgegriffen, in Schottland Englisch zu lernen. Er arbeitete dort in einer Camphill-Einrichtung und betreute sechs geistig behinderte Kinder. „Die Abläufe kannte ich aus Wahlwies. Ich habe dort sehr bescheiden von der Hand in den Mund gelebt. Die Leute haben enorm viel geleistet, und ich habe in der Zeit tolle Menschen kennengelernt.“ Die Tage seien vollgepackt gewesen mit Meetings, Hausabenden, Seminaren und Bibelabenden. Es sei sehr anthroposophisch zugegangen, so Dorell rückblickend.

Im Herbst 1955 kam er zurück an den Bodensee. Er arbeitete in Singen bei einer Möbelspedition und verbrachte jedes Wochenende mit anderen ehemaligen Jugendlichen im Kinderdorf. Fünf Jahre lang fuhr er durchs ganze Land. Er sagt: „Das war eine tolle Zeit – bis ich einen Film über Schweden sah. Der Sommer, die Landschaft, schöne Mädchen: Da musste ich hin.“
Gustav Dorell verdingte sich als Knecht, blieb anderthalb Jahre und schwärmt noch heute von dem Fjord, dem roten Granit, den grünen Tannen und der Landschaft. Nach einer Pause ging er ein zweites Mal nach Schweden, bevor er wieder bei der Möbelspedition in Singen arbeitete.
Als unruhiger Geist, wie er sich selbst bezeichnet, lebte er zwei Jahre in Berlin und war dann über zweieinhalb Jahre lang Hausmeister im Kinderdorf – auch im harten Winter 1963/64. „Hier wurde mit Schlacke geheizt, die habe ich vom Bahnhof geholt, durchgesiebt und an die Familien verteilt. Im Sommer wurde Holz aus dem Wald geholt und gehackt.“

Über „Tante Hupp“, die gute Seele des Kinderdorfs, kam er nach Brachenreuthe bei Überlingen. Dort leiteten jüdische Christen einen Ableger von Camphill, wie er es nennt. Schon acht Monate später war er wieder in Wahlwies und lernte 1968 seine Frau Marianne kennen. Er arbeitete in der Gärtnerei und Landwirtschaft, später im Obstbau. „Wir hatten jede Menge Obst, alles biologisch-dynamisch.“ Durch die Arbeit habe er kaputte Knie und Rückenprobleme bekommen und fast nicht mehr laufen können. Mit 61 Jahren ging er deshalb in Rente. Seine Frau hatte als Arzthelferin gearbeitet. Gemeinsam mit ihr nahmen die sechs Rentner, die im Kinderdorf lebenslanges Wohnrecht hatten, die Mahlzeiten ein. Heute wohnen außer ihm drei andere Rentner hier. Zum Essen geht der Witwer in den Speisesaal.
Nach seinem 90. Geburtstag unternahm er mit seinen Söhnen Michael und Jan sowie dessen Frau und den drei Enkelkindern eine Kreuzfahrt im Mittelmeer. „Für mich war es wichtig, einmal ein paar Tage mit der Familie zusammen zu sein“, berichtet Gustav Dorell. Auch Schweden ist ihm immer noch nahe: „Es gibt die Verbindung mit Schweden seit 60 Jahren. Sich zu sehen und persönlich unterhalten zu können, ist wichtig. Ich fahre jedes Jahr hin. Jetzt gehe ich zwar nicht mehr angeln, aber die Leute zu erleben, mit ihnen zu reden und Feste zu feiern, das genieße ich.“

Sein Lebensfazit bis heute fällt positiv aus: „Es geht mir sehr gut, ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich geleistet habe. Die Kräfte haben nachgelassen, das Laufen wird schwieriger, aber ich möchte mit niemandem tauschen.“ Jeden Tag bekomme er Besuch von seinem Sohn Jan. Ohne seine Söhne wäre er schon längst im Altersheim, glaubt Gustav Dorell. Und sein Tipp für ein harmonisches Miteinander lautet: „Ich gehe auf die Menschen zu und behandele jeden so, wie ich selbst behandelt werden möchte.“