Seit 2004 gibt es in Deutschland den Vorlesetag, eine Initiative der Wochenzeitung Die Zeit, der Stiftung Lesen und der Deutsche Bahn Stiftung. Der Tag rückt die Bedeutung des Vorlesens in den Mittelpunkt. Geht es ums Vorlesen, denkt man zunächst an Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter, deren Sprach- und Lesevermögen dadurch gefördert wird. Doch genauso profitieren ältere Menschen davon, wenn ihnen vorgelesen wird. Es kitzelt kognitive Fähigkeiten, emotionale und soziale Kompetenzen wach.

Wer kann, liest noch selber

Siegfried Löhle (73) aus Meßkirch wohnt im Altenpflegeheim St. Martin. Er schiebt seinen Rollator zu einer der Lesenischen auf seinem Stockwerk. Hier flackert ein künstliches Kaminfeuer, im Regal hinter dem Lesesessel steht eine Auswahl an Romanen. Doch Löhle hat sein eigenes Buch dabei, außerdem liegen im Rollator-Korb einige Rätselhefte und das Quizbuch „Wer weiß denn sowas?“. Der Krimi, den er schon zur Hälfte durch hat, spielt in der schwäbischen Provinz. Der frühere Schweißer und Schlosser bevorzugt Krimis und Thriller, erzählt er, doch gegen Abend lese er lieber etwas weniger Aufregendes. „Dann kann ich besser einschlafen.“ Er ist in der glücklichen Lage, noch selber lesen zu können. Er hat das Sehvermögen und kann das Buch selber halten. Was nicht heißt, dass Löhle es nicht auch genießt, beim Vorlesen zuzuhören.

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Gemeinschaftliches Erlebnis

Vorleserunden sind im Altenpflegeheim St. Martin fester Bestandteil im Betreuungsangebot; sie bringen Struktur in den Tag, regen die Senioren dazu an, über das Gehörte zu sprechen und wecken Erinnerungen. Wer aufgrund fortgeschrittener Krankheit den Sinn womöglich nicht mehr erfassen kann, spüre aber: „Es ist jemand da, der sich mit mir beschäftigt, der mich wahrnimmt“, erklärt Pflegedienstleiterin Nadine Kreuter. „Es gibt auch Duftgeschichten als eine Form der Kommunikation mit Menschen, deren Wahrnehmung beeinträchtigt ist. Da arbeiten wir zum Beispiel mit Ölen und Gewürzen zum Riechen; Dingen zum Tasten.“

Zuhörer nicht überfordern

Romana Weißenbach vom Qualitätsmanagement liest den Heimbewohnern regelmäßig aus dem hausinternen St. Martins Blättle vor, das monatlich ...
Romana Weißenbach vom Qualitätsmanagement liest den Heimbewohnern regelmäßig aus dem hausinternen St. Martins Blättle vor, das monatlich herauskommt. | Bild: Johanson, Kirsten

In der Ausbildung werden die Betreuer und Alltagsbegleiter auch in Lesetechniken geschult. „Langsam und betont, nicht zu schnell, lieber mit einer etwas tieferen Stimme, denn Schwerhörige können tiefe Töne besser hören“, erzählt die Qualitätsmanagementbeauftragte Romana Weißenbach. Sie beobachtet ihre Zuhörerinnen und Zuhörer gut und erkennt, wenn diese überfordert sind. „Ich achte auf die Körpersprache. Die Bewohner werden unruhig, nesteln an ihrer Kleidung, wollen aufstehen oder schauen weg.“

Biografiearbeit ist essentiell

Ideal sind Geschichten, mit denen sich die Senioren identifizieren, weil sie die Texte aus der Vergangenheit kennen. Mit Bewohnern, die kognitiv dazu in der Lage sind, den Inhalt zu verstehen, spricht Weißenbach über das Vorgelesene. „Ein guter Impulsgeber sind Koch- und Backrezepte, Reime und humorvolle Sprüche. Weitere Anknüpfungspunkte sind themen- und anlassbezogene Geschichten, jetzt im November haben wir zum Beispiel Martinsgans und Rübengeister, Allerheiligen und Buß- und Bettag. Ich nehme auch gerne Bildbände zur Hand, denn Bilder wecken Erinnerungen.“ Oder wie es die Stiftung Lesen ausdrückt: „Vorlesen trägt dazu bei, die Freude am Lesen zu erhalten, zu teilen und erlebbar zu machen.“ Um mit den älteren Menschen ins Gespräch zu kommen, helfe Biografiearbeit im Vorfeld. Ist jemand gerne in der Natur unterwegs gewesen, gerne unter Menschen oder eher ein Einzelgänger? Ist der Bewohner gläubig, welches Essen mag er am liebsten?

„Lesen, Vorlesen, Hörbücher, Podcasts – das ist auf jeden Fall ein großes Thema bei uns“, so Kreuter. Sie schwärmt in diesem Zusammenhang von einem digitalen Aktivitätstisch, den die Einrichtung ausprobieren durfte und der von den Senioren sehr gut angenommen worden sei.

Gesellschaftliche Teilhabe

Gerade das Vorlesen der Tageszeitung sei bei den Heimbewohnern beliebt, berichtet die Pflegedienstleiterin. Es lasse sie am Alltag teilhaben. „Der Wiedererkennungswert des Mediums ist hoch: Format, Papier, Geruch, Überschriften. Neben der Politik und dem Lokalgeschehen sind Wetter und Todesanzeigen ganz wichtig.“

Eigenes Martinsblättle

Das hausinterne Heft „St. Martins Blättle“ wird monatlich von zwei Mitarbeiterinnen zusammengestellt und erfreut sich ebenfalls großer Beliebtheit. Die Bauernregel des Monats gehört ebenso dazu wie lustige Sprüche und jahreszeitliche Themen. Schön seien die Vorleserunden im Dezember, wenn man sich in den Lesenischen bei Tee und Plätzchen treffe, um Advents- und Weihnachtsgeschichten zu lauschen.

Wichtig sei es, die älteren Menschen nicht zu verkindlichen und ihnen Kinderbücher vorzulesen. „Wir haben es mit erwachsenen Menschen zu tun, denen wir wertschätzend begegnen. Märchenklassiker gerne, die werden von den älteren Menschen auch geschätzt, aber nicht so etwas wie die Kleine Raupe Nimmersatt.“