Warum tut sich die deutsche Kirche bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals auch nach so vielen Jahren noch so schwer?

Das Handeln war in der Vergangenheit nicht selten davon bestimmt, die Institution Kirche zu schützen und deshalb waren die Opfer zu wenig im Blick. Es gab sicher auch viele ältere Bischöfe, die das Thema ausgeblendet haben. Auch deshalb hat man hat oftmals Pfarrer an andere Orte versetzt, nach dem Motto, dann ist das Problem erledigt. Selbstverständlich müssen alle Taten aufgearbeitet und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Das geschah zu wenig, aber dennoch gab es auch Fälle, die rechtzeitig aufgearbeitet wurden. Ich weiß von Fällen, bei denen die Täter ihre Haftstrafe absitzen mussten. Es ist nicht so, dass gar nichts getan wurde, wie man derzeit meinen könnte.

Das heißt, wo Missbrauch stattfindet, Entlassung aus dem Kirchendienst?

Für jeden Menschen gilt natürlich zunächst die Unschuldsvermutung, das garantiert unser Rechtsstaat. Aber, wenn ein Missbrauch nachgewiesen wird, dann muss der Betreffende aus dem Kirchendienst ausgeschlossen werden, das steht für mich außer Frage. Ich bitte jedoch bei der notwendigen Diskussion nicht zu vergessen, dass die überwältigende Mehrheit der Priester eine hervorragende Arbeit leistet. Ich selbst wurde in meiner Kindheit von der Kirche geprägt und habe viel Positives erlebt, das mich heute noch trägt.

Hängt für Sie Missbrauch auch mit den Machtstrukturen der katholischen Kirche zusammen?

Die katholische Kirche ist hierarchisch strukturiert. Da kann die Gefahr bestehen, dass Macht auf vielerlei Weise missbraucht wird. Ich persönlich erlebe in meinem Alltag allerdings mehr „Ohnmacht“, bei allem was ansteht, und sehe viel mehr die „Vollmacht“ in meinem priesterlichen Dienst, wenn es darum geht, den Menschen die Sakramente zu spenden und das Wort Gottes zu verkünden. Damit ist allerdings auch oft eine große Erwartungshaltung an den Priester gestellt. Vielleicht müssen wir auch die Erwartungshaltung an Priester verändern.

Wie meinen Sie das?

Es klingt einfach – ein Pfarrer hat ein besonderes Amt, ist aber ein Mensch. Vielleicht hat man zu hohe Ansprüche an die Person, man stellt sie auf einen Sockel oder ein Pfarrer stellt sich selbst darauf.

Aktuell gehören in Deutschland noch etwa 50 Prozent der Bevölkerung der katholischen oder evangelischen Kirche an!?

Ja, und diese Zahl wird weiter sinken. Ich rede viel mit jungen Leuten und höre immer wieder die Frage: Was habe ich noch von der Kirche? Dieser Dienstleistungsgedanke in unserer Gesellschaft ist ein Problem, dabei sind wir alle durch Taufe oder Firmung doch Teil der Kirche.

Vor kurzer Zeit haben sich 124 Mitarbeitende der katholischen Kirche als queer geoutet – wie bewerten Sie diese Aktion?

Ich respektiere diese Entscheidung, die Mut erfordert. Aus dem Dekanat Sigmaringen-Meßkirch hat sich niemand geoutet, wobei das für mich auch kein Problem wäre. Es geht doch um die Arbeit, die jemand leistet.

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Kennen Sie Betroffene?

Ja. Ich habe einen großen Freundeskreis, darunter sind auch Homosexuelle, Priester und Nichtpriester, mit denen ich natürlich spreche und diskutiere. Es ist immer besser mit Menschen zu reden, als über Menschen. Unter den im Nachklang an die 124 Frauen und Männer, die sich geoutet haben, ist auch der ein Konstanzer Pfarrer, den ich gut kenne. Ich habe Respekt vor seinem Mut, sich öffentlich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Der Personenkreis möchte auf die Problematik im Allgemeinen aufmerksam machen, was ich gut verstehe. Aber, für den einzelnen Gläubigen frage ich mich, was der davon hat, wenn er weiß, dass der Pfarrer schwul ist.

Müssen betroffene Kirchenmitarbeitende Angst um ihren Arbeitsplatz haben?

Nein. Das hat Generalvikar Christoph Neubrand von der Erzdiözese Freiburg, mein Amtsvorgänger als Dekan, so eindeutig formuliert.

Welche Folgen hat Corona für ihren Kirchenalltag?

Corona hat mir noch bewusster gemacht, in welcher pluralen Gesellschaft wir leben und ich als Pfarrer habe die Aufgabe, die Gemeinschaft in dieser Vielfalt zu erhalten. Es gibt Kirchgänger, die alles so lassen wollen, wie immer. Manche stehen der Kirche ablehnend gegenüber und manchen gehen Veränderungen nicht schnell genug.

Initiativen wie Maria 2.0. fordern, dass Frauen auch die Priesterweihe empfangen dürfen!?

Das wäre sicher ungewohnt, aber ich wäre offen für eine solche Veränderung. Aber dies muss theologisch gut fundiert sein. Man muss dabei die Kirche aus der Sicht der Lehre und der Lehrenden verstehen. Es ist eindeutig, dass wir alle, ob Mann oder Frau, Christus repräsentieren können. Aber Gott wurde durch Jesus Christus für die Menschen sichtbar, also einen Mann. Und beim letzten Abendmahl war er auch nur von Männern umgeben. Andererseits schildert das Neue Testament viele Begegnungen zwischen Jesus und Frauen. Wie gesagt, es müsste theologisch sehr gut begründet sein. Wobei ich das Hauptproblem bei der Umsetzung nicht in Deutschland sehe, sondern in der Weltkirche.

Ein schwieriges Thema ist auch der Pflichtzölibat bei Priestern?

Das stimmt, wobei ich meine Meinung zum Zölibat in den vergangenen Jahren geändert habe.

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Inwiefern?

Viele junge Priester starten mit vielen Idealen, zu denen auch der Verzicht auf die Ehe gehört. Aber, das Leben kann sich verändern und ich habe einige Mitbrüder erlebt, die ihr Amt aufgegeben und geheiratet haben. Auch mein Ausbilder am Priesterseminar hat in späten Jahren seine Frau kennengelernt und geheiratet. Die Kirche müsste für solche Menschen, die wertvoll für die Kirche sind, Möglichkeiten schaffen, damit sie weiter ihren Beruf, der oft auch Berufung ist, weiter ausüben können. Vielleicht muss man auch Einrichtungen wie Priesterseminare überdenken.

Welche Rolle spielt das Zölibat bei Ihnen?

Für mich passt es im Moment. Ich habe das Zölibat ja freiwillig gewählt und dank vieler Freunde habe ich ein Umfeld, das mich auffängt. Aber da ist jeder Mensch anders und vielleicht sollte man es Priestern freistellen, ob sie zölibatär leben oder nicht. Das hätte dann auch Auswirkungen auf die Arbeit des Pfarrers, denn er könnte sich nicht mehr ausschließlich seiner Gemeinde widmen.

In der evangelischen Kirche ist das Alltag!?

Selbstverständlich würden auch verheiratete katholische Pfarrer die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie hinbekommen. Aber, wenn ich meinen Arbeitsalltag anschaue, könnte ich aus Rücksicht auf eine Familie manches nicht mehr in dieser Intensität machen.

Wann wird es Veränderungen in der katholischen Kirche geben?

Es wird Geduld brauchen, wobei wir sehen, dass sich die Kirche in der Vergangenheit immer verändert hat. Aber wir haben eine Weltkirche, und wenn uns Deutschen die Veränderungen zu langsam gehen, muss man immer bedenken, dass die Kirche weltumspannend ist und alle Länder und Menschen mitnehmen muss. Die nötigen Veränderungen im Kirchenrecht werden dauern.

Was können Sie als Dekan, als Pfarrer vor Ort dann bewirken?

Ich bin ein praktischer Mensch, und wir müssen die Realität akzeptieren und bei meinem Handeln versuche ich, die Kirche in ihrem Denken zu verstehen. Die Aufgabe des Pfarrers sehe ich darin, die Einheit der Menschen zu bewahren und die Kirche vor Ort konkret zu gestalten. Für mich heißt das, dass jeder Mensch in der Kirche willkommen ist und ich dankbar für jeden Menschen bin, der in der Kirche mitarbeitet. Es gibt so Viele, die sich engagieren und ich weiß, auch ihnen wird derzeit viel abverlangt.

Fragen: Siegfried Volk