Es geht um Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht waren. Sie haben oft in diesen Jahren leidvolle Erfahrungen machen müssen.
Erfahrungen, die bei jüngeren Besuchern Unglauben erzeugen, bei älteren aber doch Erinnerungen wachrufen oder es möglich machen, Dinge jetzt besser zu verstehen, von denen man mal gehört hatte, die man aber nicht einordnen konnte. Dass die Thematik einen erstaunlich großen Kreis an Menschen interessiert, wurde bei einer Führung mit Kuratorin Nora Wohlfahrt deutlich.
Die 35-Jährige hat einen Masterabschluss in Geschichte, Religionswissenschaft und Politikwissenschaft und zeigte sich zu Beginn selbst erstaunt, dass rund 60 Menschen ganz unterschiedlichen Alters zu der Führung gekommen waren. „Ich habe das Interesse total unterschätzt“, gestand sie, bevor sie ein Thema erläuterte, von dem sie überzeugt ist, dass es viele betrifft.

Untersucht worden seien nur Einrichtungen in Städten mit über 50 000 Einwohnern. Deren Konzepte seien von zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft geprägt gewesen. „Es war ein geschlossenes System und Erziehungspersonal mit Fachausbildung gab es meistens nicht“, erklärte Nora Wohlfahrt. So seien ehemalige Soldaten als Angestellte eingesetzt worden oder alleinstehende Frauen.
Als drei Quadratmeter pro Kind als ausreichend galten
Oft gehörte zum Heim auch eine Landwirtschaft, berichtete sie weiter. Dass Kinder und Jugendliche hart arbeiten mussten, sei normal gewesen. Wie man einer Verwaltungsvorschrift aus dem Jahr 1965 entnehmen konnte, erachtete man damals eine Fläche von drei Quadratmetern für ein Kind oder einen Jugendlichen als ausreichend. Und da wurden die Gemeinschaftsräume mitgezählt. Die Gründe, die damals zu einer Heimaufnahme führten, wären heutzutage keine Grundlage für eine solche Entscheidung des Jugendamtes, machte die 35-Jährige deutlich.
Dokumente und Zeitzeugenberichte gewähren Einblicke in Heimalltag
Die Ausstellung bietet einen Einblick, wie der Alltag in vielen Kinderheimen aussah. Bildmaterial und Dokumente wie Speisepläne, Aktenauszüge und Briefe geben Aufschluss darüber. Zeitzeugenberichte bereichern die Darstellung um die Perspektive der Betroffenen und geben Einblicke in die Gefühlswelten der ehemaligen Heimkinder. Die psychische und körperliche Gewalt, die vielfach auf der Tagesordnung stand, wird ebenso thematisiert wie die kurzen Momente des Glücks. Das System der Heimerziehung und die Rolle der Jugendämter beim Prozess der Heimeinweisung werden ebenso beschrieben wie die Aufsicht und Kontrolle der Träger und Einrichtungen.
Keine Ausstellung, durch die man schnell durchhuscht
Zudem werden die rechtlichen Aspekte des Themas diskutiert. Wie verlief die Verfolgung von Straftaten, die in Heimen begangen wurden? Welche Möglichkeiten boten sich den Zöglingen zur Beschwerde oder Anzeige? Welche Probleme ergeben sich heute dabei, den Betroffenen gerecht zu werden, die häufig noch in der Gegenwart unter den Folgen der Heimerziehung leiden? Es gibt viel zu lesen und deshalb ist diese Ausstellung keine, durch die man schnell durchhuscht.
Projekt Heimerziehung in Baden-Württemberg hilft bei Klärung biografischer Fragen
Von 2012 bis 2018 hat das Projekt Heimerziehung in Baden-Württemberg beim Landesarchiv Baden-Württemberg ehemalige Heimkinder bei ihrer individuellen Aufarbeitung unterstützt. Für 95 Prozent der Anfragenden konnten Auskünfte ermittelt und auf diesem Weg zur Klärung biografischer Fragen beigetragen werden. Es wurde aber auch eine Fülle von Material zusammengetragen.
Anerkennung von Leid und Unrecht nun auch in der Behindertenhilfe
Anknüpfend an den von 2012 bis 2018 bestehenden Fonds Heimerziehung, aus dem ehemalige Heimkinder finanzielle Anerkennungsleistungen beantragen konnten, bietet die Stiftung Anerkennung und Hilfe seit 2017 entsprechende Leistungen für Unrechtserfahrungen in der Behindertenhilfe. Menschen, die zwischen 1949 und 1975 als Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie untergebracht waren, können noch bis Ende 2020 Anerkennungs- und Rentenersatzleistungen in Höhe von bis zu 9000 Euro beantragen. Begleitet werden Betroffene dabei von der Anlaufstelle der Stiftung beim Sozialverband VdK Baden-Württemberg.
500 Betroffene haben sich bislang gemeldet
Bisher haben sich dort etwa 500 Betroffene gemeldet. Flankiert wird die Arbeit der Stiftung durch ein weiteres Dokumentationsprojekt des Landesarchivs Baden-Württemberg. Gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung werden Recherchen für Betroffene durchgeführt, die individuelle Aufarbeitung unterstützt und das Themenfeld erforscht.
Die Ausstellung ist zu den Öffnungszeiten des Staatsarchivs zu sehen. Ein Begleitbuch kann im Lesesaal erworben werden.